Märchenhafter Schwarzwald

Romantischer geht es kaum: Von Calw zum Kloster Hirsau, durch Wolfsschlucht und Fuchsklinge. Ein perfekter Wandertag.

Calw. Ich denke an Marie Gundert, die Mutter des Schriftstellers Hermann Hesse, die vom Indischen Ozean in den Schwarzwald ziehen musste, weil ihr Mann das Klima in Kerala nicht vertrug. Hohe, schmale Fachwerkhäuser, umringt von noch höheren Tannen. Im Januar scheint keine Sonne auf den Marktplatz. Aber im Juni ist es schön.

Von Calw nach Hirsau geht es durch den Wald ober halb der Nagold. Ich brauche länger als gedacht, als ich in Hirsau ankomme, ist es schon später Vormittag und die Schatten sind hart. Hirsau ist magisch. So zwischen Narziss und Goldmund, Kingsbridge und Der Name der Rose. Ein schwäbisches, mittelalterliches Ostia Antica. Durch die Tore: niemand. Treppen fort ins Blau. Auf dem Estrich kein Thymian, sondern Löwenzahn und Tische gibt es keine. Der Taufstein der einst riesigen Kirche steht zwischen den Säulenresten. Fabeltiere am Eulenturm, Fenster zum offenen, blauen Junihimmel.

Ostia Antica
Durch die Tore: niemand
Treppen: fort ins Blau
Auf dem Estrich: Thymian
Auf den Tischen: Tau.
Zwiegespräch aus Stille
Tod aus Käferzug
Abendrot im Teller
Asche im Krug.
Asphodeloswiese
Fledermäusekreis
Diesseits oder drüben Wer das weiß

Marie Luise Kaschnitz, Neue Gedichte, 1957  

Über die Nagold, an der winzigen Aureliuskirche vorbei, geht es zur Wolfsschlucht. Alpines Klettern hat der Wanderführer versprochen und er hat Recht. Die Schlucht ist märchenhaft, ein verwunschenes Feenreich, die Kletterei ist herausfordernd und macht Spaß, ist aber selbst für Angsthäsinnen wie mich gut zu bewältigen.

Am Waldrand laufe ich nach Neuhengstett. Sommerhitze, Sonnenflimmern, hohe Himmel, weite Felder. Grünes Getreide, roter Mohn. Ich finde einen süßen Picknickplatz bei einem Waldkindergarten. Eine kleine Lichtung mit einem Tipi. Passend zu meiner Lektüre: Harka und die Söhne der großen Bärin.

Neuhengstett ist ein Waldenserdorf. 1170 verkaufte der Lyoner Kaufmann Pierre Valdes sein gesamtes Hab ung Gut, predigte fortan Besitz- und Gewaltlosigkeit und stellte die Autorität der Kirche in Frage, was ihm prompt Verfolgung und Exkommunikation eintrug. Seine Anhänger, die „Armen von Lyon“ verteilten sich über ganz Europa, vor allem in der Schweiz und im Piemont. Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Waldenser ebenso wie die Hugenotten rücksichtslos verfolgt. Deshalb packten 1688 die Einwohner des Schweizer Dorfes Villaret ihre Habseligkeiten zusammen und suchten im protestantischen Württemberg ein neues Zuhause. Das ordentliche Reißbrettdörfchen mit schnurgeraden Straßen und akkurat im rechten Winkel ausgerichteten Häusern und Scheunen bewahrt heute noch etwas französischen Charme, Flur- und Familiennamen erinnern an die Glaubensflüchtlinge, die einen französischen Dialekt sprachen und auch im Exil ihr unerschütterliches Gottvertrauen nicht verloren. Ihr Wahlspruch „Lux lucet in tenebris“ findet sich an Hauswänden, Türstürzen und natürlich in der bezaubernden kleinen Kirche aus dem 18. Jahrhundert. Vor der Kirchentür eine Wäscheleine voller Zettel:“Kirche to go“. Ich pflücke einen ab und lese in dem schlichten Kirchenraum den 100. Psalm.

Jauchzet dem Herrn, alle Welt!
Dienet dem Herrn mit Freuden,
kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!
Erkennet, dass der Herr Gott ist!
Er hat uns gemacht und nicht wir selbst
zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.
Gehet zu seinen Toren ein mit Danken,
zu seinen Vorhöfen mit Loben;
danket ihm, lobet seinen Namen!
Denn der Herr ist freundlich,
und seine Gnade währet ewig
und seine Wahrheit für und für.

Der Pfarrer, der uns getraut und zwei meiner Kinder getauft hat, war Waldenser. Ich erinnere, wie er in der Kirche stand, am Kontrabass, während ein halbes Dutzend Kinder an seinem Talar hing, was ihn nie zu stören schien. Vor ein paar Jahren ist er gestorben – voller Neugier auf den Himmel. Ich denke mit viel Dankbarkeit und Zuneigung an ihn.

Weiter geht es. Den Welschen Weg zur Fuchsklinge. Lichter Wald, sehr beschaulich, breiter Schotterweg. Schön – aber es ist heiß und ich werde müde. Die Fuchsklinge, ein kleiner Tobel vor Hirsau, bringt schließlich echte Elfenstimmung. Rauschender Bach, Libellen und knallblaue Schmetterlinge. Käme mir jemand entgegen mit Pfeil und Bogen, langen Haaren und spitzen Ohren, es würde mich nicht wundern.

 

Am Ende der Talklinge warten im Waldrestaurant Fuchsklinge Schwäbisches ohne Schnickschnack oder Kaffee und Kuchen. Dann geht es mit der Bahn zurück.

 

Praktisches:
Für die Tour sollte man einen ganzen Tag einplanen. Vernünftige Wanderschuhe oder -stiefel mit griffigem Profil sind zumindest für die Wolfsschlucht kein überflüssiger Schnickschnack. In Calw und Hirsau kann man einkehren, trotzdem empfiehlt sich ein Rucksackvesper.
Wer mit dem Auto kommt, parkt in Hirsau, ich habe von Tübingen aus Zug und Bus bis Calw genommen und bin von Hirsau aus zurück gefahren, was problemlos machbar ist.
Den Tourenvorschlag habe ich aus:
Hin und Weg
Genusswandern mit Klaus Vestewig
25 Touren zwischen Alb und Alpen
Ulm, 2020

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