Vor etwa zehn Jahren habe ich in einem kirchlichen Magazin eine Reportage über ausländische Gemeinden in Württemberg geschrieben. Dazu fuhr ich in einen Stadtteil von Nürtingen, in dem es eine Gemeinde mit überdurchschnittlich vielen Russlanddeutschen gab. Die Pfarrerin Birgit Mattausch hatte versprochen, mich am Bahnhof abzuholen.
Kirchenkram und Himbeerkuchen
An einem Sommernachmittag stieg ich aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig stand die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses Sommerkleid mit einem dramatischen Ausschnitt und eine rote Handtasche mit einem altmodischen Klickverschluss, eine Wolke rotblonder Locken umgab ein großes Gesicht mit einem strahlenden Lächeln und sie sah überhaupt kein bisschen so aus wie eine schwäbische Pfarrerin. Wir verbrachten einen sehr schönen Nachmittag mit Kirchenkram, Kaffee und Himbeerkuchen, den wir in einem Bäckereicafé eines wirklich hässlichen Einkaufszentrums verspeisten. Sie sagte sehr viele sehr kluge Dinge, war von einer überwältigenden Herzlichkeit und ich war schockverliebt.
Schreiben über Gott und die Welt
Seitdem bin ich Fangirl. Lasse mich von ihren Blogs FRAU AUGE und SPIRITUS inspirieren. Einer ihrer Predigtslams hing lange Zeit an meinem Küchenschrank. Ein Text über Mandelmilch und Maultaschen, Sehnsucht und Einsamkeit, der mich mitten ins Herz traf. Ich folge ihr auf Facebook und finde sie mit jedem Posting, mit jedem Text noch ein bisschen klüger, schlauer, schöner. Birgit Mattausch ist eine Frau, eine Autorin, eine Theologin, die mich in dem, was ich schreibe und denke und predige wirklich weiterbringt.
Jetzt hat sie einen Roman geschrieben.
BIS WIR WALD WERDEN
Ein schmaler Band, 180 Seiten. Das ist sehr wohltuend, dass jemand noch etwas sagen kann ohne einen 800-Seiten-Backstein auf den Tisch zu legen, für dessen Lektüre man eigentlich einen Kuraufenthalt auf dem Zauberberg einplanen muss.
Auf den 180 Seiten begegnen mir die Menschen, die in dem hässlichen Einkaufszentrum einkaufen, im Rossdorfer Stephanushaus ihre Kinder taufen lassen, die Fenster der Hochhäuser ringsum putzen, an der Bushaltestelle warten und in den Wald gehen. Birgit Mattausch habt mit ihnen gelebt, geschwiegen, gelacht, geweint und ihnen zugehört.
Es sind viele. Vitali und Valentina, Lilli und Nelli und Felek. Die Frau mit dem roten Kopftuch. Sie sprechen Russisch und Türkisch und Deutsch. Sie sind Meisterinnen und Meister in der Bewältigung eines oft rauen und grauen Alltags. Sie haben die Gabe, Magie in ihrem Leben zu erkennen und zuzulassen.
Aus Russland
Zu ihnen gehören auch Babulya und Nanushkinia. Die Urgroßmutter mit ihrer Urenkelin. Sie erzählt die Geschichte der Menschen aus dem Hochhaus. Sie kommen fast alle aus Friedland, der Erstaufnahmeeinrichtung für Aussiedler*innen aus der (ehemaligen) Sowjetunion. Aus Sibirien und Kirgisistan und Kasachstan. Friedland war für viele von ihnen ein zweiter Geburtsort.
Die Nacht ist eine bestickte Steppdecke. Ich lege sie vorsichtig über dich, Nanushkinia. Ich wickle dich hinein. Bis hierher trug ich dich. Bis zu diesem Haus. Diesem Aufzug. Dieser Tür. Diesem Zimmer. Diesem Bett. Ich trug dich in dieses Land. Hinter meinen Augen für immer die Birken, der Wind. Vor uns dein Leben, Kätzchen. Sollst es besser haben als ich. Nichts wissen von den Gräbern im Wald. Sollst Deutsche sein unter Deutschen. Du schläfst. Aus dem Koffer hole ich den Stern aus grünem Plastik. Ich hänge ihn an den Fenstergriff.
Jetzt sind wir da, meine Kleine.
Birgit Mattausch hat mit BIS WIR WALD WERDEN keinen Roman geschrieben, sondern ein langes, wunderbares Gedicht. Wer gerne schöne Sätze in Büchern anstreicht, sollte das diesmal lassen. Es wäre zu unübersichtlich.
Die Hochachtung und die Zärtlichkeit, die die Autorin ihren Figuren entgegenbringt, raubt einem den Atem.
Sie liebt die Menschen um sie herum bis in die allerkleinsten Verästelungen ihres Lebens. Die Muster auf den Kaffeetassen. Die Pflanzen im Flur. Die Plastiktüten und die eingelegten Gurken. Das Hochhaus wird zu einer Welt, in der es alles gibt, was man braucht. Vor allem: Geborgenheit. Freundschaft. Vertrauen.
Manches braucht man nicht, aber es ist trotzdem da. Geldsorgen. Gewalt. Einsamkeit.
In den Wald
Wenn alles zu schlimm wird, fährt man vielleicht fort wie Nelli in ihrem weißen Peugeot. Nach Odessa. Oder man geht in den Wald. Dort gibt es keine Wege und es riecht nach Minze und Waldmeister. Im Wald kann man sich verstecken. Im Wald kann man heilen. Im Wald sind Bären und Schwäne und Rehe und Krähen. Und Gräber.
Pssssst, mein Kätzchen. Das erzählen wir niemandem.
Birgit Mattausch hat ein großartiges, traumhaft schönes Buch geschrieben, in dem Angst und Schrecken durch die frisch gewaschenen Tüllgardinen schimmern. Nie verschwinden werden. Immer bleiben auf der feinen Linie zwischen Schlaf und Traum. In den Alpträumen derer, in deren Pässen erst deutsche, dann russische, dann wieder deutsche Namen stehen. Der Menschen, die von Gräbern im Wald wissen
Ein Buch voller Respekt und Menschlichkeit. Und voller Glauben daran, dass man heil und ganz werden kann, wenn man die Frau mit dem roten Kopftuch an der Bushaltestelle trifft oder in Sommernächten auf einem Hochhausdach liegt und in den Himmel blickt.
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