Das Blaue vom Himmel

Visuelle Poesie: „Missing Parts“ ist Farbe und Form, Bild und Skulptur, Sprache und Klang

 

Die Künstlerbrüder Gert und Uwe Tobias verwandeln die Tübinger Kunsthalle in ein betörend schönes Märchenland

Im Foyer der Kunsthalle Tübingen, diesem Zwischenreich, in dem Kataloge und Museumsshopnippes ausgestellt und Taschen und Jacken weggesperrt werden, wacht eine Eule. Mitten im Raum und doch gut versteckt. Sie wird nicht die einzige bleiben. Eulen gehören zu den Wappentieren von Gert und Uwe Tobias. Ein mystischer und mythischer Vogel, der in der Dämmerung fliegt, Weisheit und Natur miteinander verbindend. Eine Botin zwischen dem Diesseits und den Seelenwelten. Ein Märchenvogel. Ein perfekter Türhüter für die Welt der Gebrüder Tobias.

Wie die Gebrüder Grimm schaffen die Geschwister aus Siebenbürgen einen Märchenkosmos. Aber sie begnügen sich nicht damit, Geschichten zu sammeln und aufzuschreiben. Sie setzen sie neu zusammen, erneuern sie und führen sie weiter. Das Ergebnis ist ein wunderschönes, magisches Universum voller Kobolde, Fabelwesen und fantastischen Pflanzenwelten, von dem man sich gerne verzaubern lässt.

Dr. Nicole Fritz, die Direktorin der Kunsthalle Tübingen, hat mit sicherem Gespür für das, was gerade berührt und von sich reden macht, das Künstlerduo eingeladen. Es ist ihr zweiter Auftritt in Tübingen. In der Ausstellung „Sisters and Brothers“ hatten die beiden bereits einen bemerkenswerten Auftritt mit einer Neuinterpretation von Manfredis „Kain und Abel“.

Bunter Holzschnitt mit Fantasiefiguren
Kain und Abel. Detail aus dem Holzschnitt aus der Ausstellung „Sisters and Brothers“

Superstars aus Siebenbürgen

Gert und Uwe Tobias sind zweifellos die bekanntesten Druckgrafiker ihrer Generation. 2007 hatten sie eine Ausstellung im MoMA, seitdem gelten sie als Superstars, deren Werke in allen großen Häusern auf der ganzen Welt zu sehen sind.

Die beiden Brüder sind 1973 in Brasov (Kronstadt) in Siebenbürgen geboren und im Alter von 12 Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Sie haben in Braunschweig studiert und arbeiten seit zwanzig Jahren zusammen. Ihr Atelier befindet sich in einer Kölner Industriehalle, wo sie mit ihrer ganzen Familie wohnen, leben und arbeiten. Zur Tübinger Ausstellung ist ein sehenswerter Dokumentarfilm entstanden, in dem die Filmemacherin Antonia Coenen diese ungewöhnliche Künstlerfamilien-WG begleitet.

Im Gespräch betonen die beiden, dass das Zwillingsthema für sie kein Thema sei – aber so ganz glauben kann man ihnen das nicht.  Wenn sie miteinander in ihrer „Geheimsprache“, dem Siebenbürger Sächsisch, reden oder der eine einen Satz beginnt, den der andere dann beendet, dann wirken sie schon ein bisschen wie eine männliche Ausgabe von Schneeweißchen und Rosenrot. Auch heute noch haftet Zwillingen noch etwas Mythisches, Märchenhaftes an und so integrieren sich Gert und Uwe Tobias perfekt in den Kosmos, den sie geschaffen haben.

Sie reihen sich zudem ein in die lange Reihe von Künstlerbrüdern: Pieter und Jan Brueghel, Michael und Franz Unterberger, Raoul und Jean Dufy, Alberto, Diego und Bruno Giacometti – die Liste ist lang und das kunsthistorische Interesse an solchen Familienbanden groß: die Kunst entsteht aus dem Kollektiv. Zwillinge bedeuten auch das Ende der Ich-Zeit und die Sehnsucht nach dem Wir.

Wer mit Anfang 30 bereits riesige Erfolge feiern konnte und das mit Anfang 50 immer noch schafft, hat sich nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Das Werk von Gert und Uwe Tobias ist in jeder Hinsicht innovativ und facettenreich. Motive, Inspiration und Technik werden weiterentwickelt, erneuert, transformiert. Holzschnitte, Collagen, Aquarelle, Zeichnungen – die beiden spielen viele Instrumente, auf denen sie ihre Themen ständig variieren. Aber immer bleiben sie in dem Kosmos, den sie mit ihrer Kunst erschaffen haben und der sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Die transsilvanische Herkunft und der Zwillingsmythos sind nur zwei davon.

Am Anfang ist die Zeichnung

Alle Werke haben ihren Ursprung in der Zeichnung. Die Zeichnung ist die direkteste Art, mit Ideenwelten umzugehen, ein Medium zwischen Geist und Hand, das das Denken sichtbar macht und einen eigenen Wert und ein eigenes Dasein hat. In der Zeichnung finden die Brüder neue Formen, klären Ideen, entwickeln ihre Fantasiewelten.

In der Kunsthalle haben sie die Wände vollgezeichnet und eine Installation geschaffen, in der nicht nur die Werke, sondern auch der Raum, die Kunsthalle selbst, eine wichtige Rolle spielt. Die Ausstellung ist ein Denkraum, keine Retrospektive. Während einige Werke für die Schau in der Kunsthalle entstanden sind, sind andere bereits 15 Jahre alt. Die Ausstellung sei für sie eine Chance, ihr Werk zu durchdenken und sich neu aufzustellen, erklären sie. Man darf also gespannt darauf sein, was die Zukunft bringt.

Surrealismus und Collage

Wer so eng zusammen arbeitet wie Gert und Uwe Tobias, der braucht ein Austauschmedium. Das ist die Collage, die für die beiden ein essenzieller Arbeitsschritt auf dem Weg zum Bild geworden ist. Collagen dekonstruieren und fügen wieder zusammen, auch das, was scheinbar nicht zusammengehört oder zusammenpasst. In der Welt nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie damit ein ausgesprochen zeitgemäßes Medium. Vor allem der Surrealismus machte die Collage zu einem ernst zu nehmenden Genre, das mehr ist als nur Idee und Vorstadium.

„Die Collagetechnik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Elementen  auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, der bei der Annäherung an diese Realitäten überspringt.“, schreibt der Surrealist Max Ernst. Der Surrealismus ist das, was über die Realität hinausweist. Das Märchenland der Gebrüder Tobias macht immer wieder Anleihen an den Traumwelten des Surrealismus. Nur deren psychologische Komponente spielt keine Rolle, der Tobias-Kosmos ist keine Reise ins eigene Unbewusste.

Stattdessen reisen die Brüder in ihren Bildern nach Siebenbürgen: die rumänischen bzw. siebenbürgische Volkskunst ist neben der Welt der Märchen und den Einflüssen des Surrealismus eine wichtige Inspirationsquelle.

Stickmuster auf der Schreibmaschine

Es ist einer siebenbürgischen Volksschullehrerin  zu verdanken, dass uns die Blüten und Ornamente, die Löwen, Hirschen und Greife, aus denen die Gebrüder Tobias ihre Fabelwesen konstruieren, so  vertraut sind: Herta Wilk (1918-1992) unterrichtete über 25 Jahre lang an der deutschen Volksschule in Prejmer (Tartlau). Ihr große Leidenschaft galt der siebenbürgischen Folklore und so suchte, sammelte, bewahrte und interpretierte sie vor allem das, was sie beim jahrelangen Stöbern in den Truhen und Wäscheschränken der Tartlauer Hausfrauen entdeckte, fotografierte und akribisch auf Millimeterpapier festgehalten hatte: traditionelle Stick- und Webmuster. Um 1980 veröffentlichte sie ihre Fundschätze in zwei Mustermappen, die in mehreren Auflagen und Tausenden von Exemplaren fester Bestandteil siebenbürgischer Haushalte wurden. Damit nicht genug: auch die bekannteste bundesdeutsche Handarbeitszeitschrift veröffentlichte Teile von Herta Wilks Musterbüchern und sorgte so für eine breite Verbreitung dieser besonderen Bildsprache.

Gert und Uwe Tobias machen mit diesen traditionellen Motiven, die Kleidung und Haushaltsgegenständen bis heute eine Aura des Authentischen, Nicht-Kommerziellen verleihen, das, was sie auch mit Märchenmotiven und Anleihen aus der Kunstgeschichte machen: sie transformieren, erweitern und erneuern und integrieren die kollektiven Traditionen regionaler Volkskunst in ihren individuellen Kunst-Kosmos.

So brachten die Stickmuster sie auf die Idee, mit Hilfe einer alten Olympia-Schreibmaschine, deren Farbband nicht mehr ganz frisch ist und deshalb feine Farbabstufungen zulässt, Figuren und abstrakte Muster aus Buchstaben und Satzzeichen zu tippen. Die Sprache wird zum Bild, zu einer visuellen Poesie.

Missing Parts

Visuelle Poesie ist auch die raumgreifende Installation „Missing Parts“. Die Gebrüder Tobias verwenden den gesamten Raum als Matrix für ihren außergewöhnlichen Holzschnitt – sogar die Treppenstufen und die darüberlaufende graue Sockelleiste werden zum Teil des Kunstwerks, das zwischen Skulptur und Malerei oszilliert.

„Missing Parts“ ist eine beeindruckende, raumgreifende Installation

Die Wiederentdeckung und Erneuerung des Holzschnitts ist Dreh- und Angelpunkt des Tobias-Kosmos. Er ist ihr gemeinsames Medium, sie haben aus der Technik, die in den 70er-Jahren mit Künstlern wie HAP Grieshaber ihren letzten großen Auftritt hatte, etwas völlig Neues gemacht. Ihre Holzschnitte sind leicht, bunt, malerisch, ohne jene typisch schroffe, archaische Note.

Für ihre riesigen, wandfüllenden Holzschnitte werden die Vorzeichnungen gescannt, geklärt und so verändert, dass man sie mit einer Dekupiersäge ausschneiden und zu einer Schablone verarbeiten kann. Die beiden Künstler verwenden Pappelholz, das so gut wie keine Maserung aufweist. Die so entstandenen mobilen Druckplatten werden wie ein Puzzle zusammengefügt und mit Hilfe von Händen und Füßen auf die am Boden liegende Leinwand gedruckt. Wie beim Kartoffeldruck.

Beim Ausschneiden der Druckstöcke bleiben Reste übrig. Die haben Gert und Uwe Tobias gesammelt, im Lauf der Zeit ist ein riesiger Fundus an Formen und Fragmenten entstanden. „Missing Parts“ ist also nichts anderes als eine riesige Restecollage – gleichzeitig ist es aber auch ein Werk, in dem sich Malerei, Musik und Sprache begegnen. Notenschlüssel und Buchstaben, Klangwellen und Satzzeichen sind in Schulkreidefarben auf die tafelschwarz grundierte Leinwand gedruckt.

Subversive Stillleben

Im Märchen können Tiere sprechen, Besen fliegen und Tische sich selbst decken. Auch die Figuren der Gebrüder Tobias entwickeln ein kurioses Eigenleben, tauchen mal hier, mal dort auf, verändern Farbe und Form und sind insgesamt ungeheuer lebendig, vor allem dort, wo man es am allerwenigsten erwartete: Im Stillleben. Nature morte heißt die Gattung auf Französisch und was im 17. Jahrhundert in perfekt komponierten Arrangements still und schön auf die Endlichkeit allen Seins hinweisen sollte, wird im Tobias-Kosmos neu aufgemischt. Es steckt eine ungeheure subversive Energie in dieser postmodernen Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte: Schmetterlinge, Fliegen und seltsame Mischwesen werden zu Hauptdarstellern in einer Welt, in der nichts mehr zusammenpasst und in der es drunter und drüber zu gehen scheint. Statt traurigen toten Fasanen tobt sich hier eine fröhliche Vogelhochzeitsgesellschaft aus und die Zeit steht nicht nur still, sondern spielt mangels Zeigern auf dem Ziffernblatt einfach keine Rolle mehr.

Memento Mori oder Vogelhochzeit? In den Stillleben von Gert und Uwe Tobias geht es ziemlich lebendig zu.

Gert und Uwe Tobias produzieren Bilder von Bildern, spielen mit Techniken und Genres und finden so zu einem faszinierend hybriden Individualstil. „Ein Bild hat dann Bestand, wenn es mich in seinen Bann zieht und ich es in mir trage“, sagt einer von beiden.

Schwebende Portraits

Auch die „Portraits“ genannte Werkreihe mit grotesken Figurenpaaren, die das klassische Mutter-Kind-Thema in der Kunstgeschichte auf humorvolle Weise weiterentwickeln, bedient sich unterschiedlicher Traditionsstränge und kombiniert sie zu einem neuen Figurenrepertoire. Ein bisschen osteuropäische Folklore, ein bisschen Konstruktivismus, ein bisschen Surrealismus. Oskar Schlemmer, Paul Klee, Joan Miró und Pablo Picasso standen hier Paten und das rosafarbene Kopftuch hat auch schon die Oma im fernen Rumänien getragen.

Porträts an der Wand und in der Kamera

Drachen und Kobolde, Heiligenfiguren und Trachtenmädchen werden durch einen allumfassenden magischen Zusammenhang miteinander verbunden. „Bricolage“ hat der Anthropologe Claude Lévi-Strauss die fantasievolle Kombination von „Bruchstücken“ sinnlicher Wahrnehmung und  vergangener Ereignisse, die mit Hilfe der Einbildungskraft zu konkreten Bildern und Geschichten werden, genannt. Dieses „wilde Denken“ erlaubt Rückgriffe und Vorgriffe, vielschichtige Metamorphosen, poetische Umsetzungen in die eigene Sprache und schafft eine verspielte Ahnengalerie, in der die Bilder zu schweben scheinen und ein silberfarbener Hintergrund alles in die geheimnisvolle Aura östlicher Ikonenmalerei taucht.

Schwarze Paläste

Man könnte sich ganz und gar im transsilvanischen Märchenwald verirren oder in nächtlichen Traumwelten verlieren. Gert und Uwe Tobias streichen Wände schwarz, um ihren Bilderwelten den passenden Raum zu geben. Vor dem aufscheinenden Kitsch rettet die Präzision technischer Zeichnungen. Nichts ist realistischer als die Geometrie, als schnurgerade Linien und vollendete Kreise. Aber über diesen Realismus gehen sie auch gleich wieder hinaus und so scheint die Wandzeichnung einen Palast in den Tiefen des Meeres zu zeigen, in dem uns eine seltsame Kreatur aus Keramik erwartet.

Surreale Welten: Technische Zeichnungen in der Tiefe des Meeres oder im dunklen Wald

Die Märchenwelten von Gert und Uwe Tobias sind fantastisch, romantisch, surreal, komisch, wunderschön. Mit der Welt außerhalb dieses selbstgeschaffenen Universums haben sie nur wenig zu tun. Sie sind nicht politisch, nicht sozialkritisch, sie sind keine Auseinandersetzung der Künstler mit der Welt.

Das Blaue vom Himmel

Aber während der Corona-Pandemie entstehen große, tote Keramikfliegen. Sie liegen auf dem Boden der Tübinger Kunsthalle herum und sehen aus, als seien sie aus einem Bild gefallen. Sie aktualisieren die Memento Mori-Motive der Stillleben, nehmen die Vergänglichkeit und Endlichkeit aus den „natures mortes“ noch einmal auf. Dazwischen hängt ein Bild, das einen Stuhl im Käfig zeigt. Über Kopf aufgehängt, die Stuhllehne stellt eine schlafende Eule dar. Auf dem Käfig ein kleiner gelber Vogel. Alle sind eingesperrt, die Welt steht Kopf, die Sehnsucht nach Freiheit grenzenlos.

Käfighaltung

Nach dieser Erfahrung legen Gert und Uwe Tobias in ihrer neuesten Werkreihe den Blick auf den Himmel frei. Der ebenfalls über 12 Meter große Holzschnitt erweitert das surreale Spiel in kosmische Gefilde.

„Die Bildidee kam von Monet“, meint einer der beiden. „Monet malte Seerosenbilder, in denen sich der Himmel spiegelt.  Wir haben das umgekehrt. Bei uns spiegelt sich die Welt im Himmel.“

Über den Wolken

 

In Anlehnung an den großen Impressionisten ist dieses Werk das malerischste Werk der gesamten Ausstellung. Hier geht alles drunter und drüber. Luft und Erde, Feuer und Wasser, Wolken schweben zwischen Erde und Unendlichkeit. Schnecken und Vögel treffen einander und eine Eule surft auf einem Teppich durch das Wolkenmeer. Diese poetischen, verträumten Himmelsansichten führen die Betrachter immer weiter hinein in die enigmatischen Parallelwelten der Tobias-Brüder.

Man darf gespannt sein auf das, was danach kommt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Katalog zur Ausstellung:
Nicole Fritz (Hrsg.)
Gert und Uwe Tobias
Kunsthalle Tübingen
2024

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