Herzstücke

Luftbild Kunsthalle Tübingen
Kunsthalle Tübingen

Von Emden nach Tübingen

Herzstücke. Die Kunsthalle Tübingen zeigt Lieblingsbilder aus der Kunsthalle Emden, die der Stern-Herausgeber Henri Nannen und der Galerist Otto van de Loo zusammengetragen haben. Vor allem Henri Nannen sammelte nicht strategisch, sondern einfach aus dem Bauch heraus alles, was ihm Lust bereitete, ihn wütend machte oder ihn „bis unter die Haut schmerzte“. Kunsthallendirektorin Dr.Nicole Fritz bekam von Eske Nannen und den Kolleginnen aus Ostfriesland carte blanche und nutzte diese Freiheit für eine Ausstellung, die voller Sinnlichkeit, Emotionalität und Fantasie durch die expressive Malerei des 20. Jahrhunderts führt. Die Medienkunstgruppe „Lunar Ring“ bietet dazu ein wunderbar verspieltes Wechselspiel aus Erinnerung und Kreativität.

Eingang der Kunsthalle in Emden
Kunsthalle Emden

Farbenrausch

Mein Lieblingsbild ist eins von Asger Jorn. „Paradanar“ ist 1959 entstanden und bewegt sich irgendwo zwischen figurativer und abstrakter Malerei. Wie in den meisten Werken des dänischen Künstlers, der 1974 mit knapp sechzig Jahren gestorben ist, spielen Gestalten die Hauptrolle, die nordischen Sagen und Mythen entlehnt sind: Trolle, Elfen, Zwerge. Anthropomorph, vogelgestaltig, gruselig und komisch zugleich.

BIld "Paradanar" von Asger Jorn
Asger Jorn, Paradanar, 1959

Das Bild ist von spielerischer Leichtigkeit, gleichzeitig ahnt man Dunkles, Abgründiges, Geheimnisvolles. Die Farben sind unglaublich, sonnenbunt und graudüster. Asger Jorn baut mit seiner Bildsprache Brücken zwischen experimenteller Freiheit und formaler Klarheit. Dazu kommt eine große Portion skandinavische Fabulierlust. Ich bin schockverliebt in die Wildheit und den Charme, die Tiefe und die Heiterkeit dieser Kunst. „Unser Ziel ist es, der Herrschaft der Vernunft zu entfliehen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen“, schreibt Asger Jorn in einem Essay. Wer das schreibt, malt solche Bilder: energiegeladen, unmittelbar und ausdrucksstark.

Die Ausstellung feiert einen wahren Farbenrausch. Selten war die Kunst farbiger als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Blaue Fohlen, gelbgrüne Landschaften, Mädchen in roten Kleidern. Es scheint, als hätte die Malerei den Kohlestaub der Städte mit ihren Paletten vertreiben wollen. Man ertrinkt in der Schönheit dieser Farben. Asger Jorn und seine Künstlerkollegen aus den 50er- und 60er-Jahren machen es den Expressionisten nach und legen noch etwas drauf: Kinderbilder, Karneval, Volkskunst. Voller Witz und Ironie, aber auch voller Zorn und Schmerz. Das sind Bilder, die nehmen keinen Umweg über den Intellekt, die gehen direkt mitten ins Herz. Herzstücke eben.

Avantgarde in Worpswede

 

Gemälde von Paula Modersohn-Becker, das ein Mädchen in einem roten Kleid zeigt
Paula Modersohn-Becker, Kind und Ziege, 1902

Ein anderes Lieblingsbild: Ein Mädchenbildnis von Paula Modersohn-Becker. Unsicher steht das Mädchen da, in einem roten Trägerkleidchen, x-beinig, die kurzen blonden Haare leuchten um das flächige Gesicht. Als die Kollegen in Worpswede verinnerlichte Heimatbilder im „deutschen Stil“ malten, ging Paula Modersohn-Becker nach Paris und schaute sich in den Galerien Bilder von Cézanne und Gauguin an. Daheim malte sie dann radikal moderne, intensive Kinderbildnisse, die nichts mehr zu tun haben mit romantisierter Genremalerei: „Bei intimster Beobachtung die größte Einfachheit anstreben“ wollte sie. Es ist ein Jammer, dass sie mit 31 Jahren sterben musste und wir nicht sehen können, wohin ihr kompromissloser Weg sie noch geführt hätte.

In den 80er-Jahren wird wieder gemalt. Eine Bilderflut als Gegenbewegung zur Konzeptkunst. Die Ikonostase von Hans Matthäus Bachmayer habe ich schon einmal in Berlin gesehen. Und in Emden. Eine ganze Wand voller kleinformatiger, knallbunter Wachskreidezeichnungen. Kugelige Wesen mit großen Augen, Mondgesichter, absurde Piktogramme. Ein Kreuz. Wie ein Bilderaltar. Bachmayer hat die Seiten eines Buches bemalt, auf der Rückseite steht noch Text. Letztendlich sind wir visuelle Menschen, Bilder wirken stärker auf uns als noch so wohlgedrechselte Sätze. Wer vor dieser Wand steht, bekommt sofort Lust, es wieder zu probieren. Jeden Tag ein Bild zu malen. Wie früher, als Kind. Mit Wachskreiden. Ohne nachzudenken Intuition und Emotion den Stift führen zu lassen.

Kreativität und KI

Wer diesem Impuls sofort nachgeben möchte, kann das in der Kunsthalle auf völlig neue Weise tun. Die Medienkunstgruppe „Lunar Ring“ aus Tübingen führt die expressive Kunst mit einem KI-Projekt ins 21. Jahrhundert. Wer auf ein Whiteboard ein Bild malt oder sich vor eine Kamera stellt und anschließend auf Knopfdruck eine der vier Grundemotionen Freude, Wut, Trauer oder Angst auswählt, kann staunend beobachten, wie Künstliche Intelligenz in Minutenschnelle daraus ein Bild oder ein Porträt macht, bei dem mal eher Franz Marc, mal Max Beckmann oder Emil Nolde Pate gestanden haben.

BIld mit wütender Frau
Mal mit mir! Wut!

Die KI wurde mit Hunderten Millionen Bildern gefüttert und hat so bestimmte Wort-Bild-Verknüpfungen gelernt. Wer dem Computer beim Malen zusieht, kann verstehen lernen, wie sich ein Bild entwickelt, wie Farben und Formen sich zueinander verhalten. Man schaut sozusagen einem Gehirn beim Denken zu. „Die Maschine kann tatsächlich kreativ sein“, erklärt Johannes Stelzer von Lunar Ring. „Aber sie kann noch nicht etwas völlig Neues erschaffen. Das kann nur der Mensch. Die Maschine wird den Künstler nicht ersetzen Auch nicht die Künstlerin.“

Ich stelle mich vor die Kamera und drücke einmal auf Wut und einmal auf Freude. Die Ergebnisse sind wirklich erstaunlich. Aber als ich daheim bin, hole ich eine Packung Wachskreiden und einen Skizzenblock aus der Schublade. „Herzstücke“ ist nicht nur großartige Kunst zum Anschauen, Nachdenken, Staunen und Fühlen, nicht nur die Freude, ganz große Werke der Kunstgeschichte im Original zu sehen. Die Ausstellung macht wirklich Lust auf Bilder. Auf Farben und Formen. Auf Schönheit, Fantasie und Sinnlichkeit.

BIld mit fröhlicher Frau
Mal mit mir! Freude!

 

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