Hildesheim. Was glücklich macht.

Menschen vor der Michaeliskiche in Hildesheim

Mariendom und Michaeliskloster

Nachts schwimmt der Hildesheimer Dom in einem Lichtermeer. In den Boden eingelassene Lampen lassen den Eindruck entstehen, als hätte jemand Dutzende von Kerzen aufgestellt. Der Platz ist groß und weit. Man gönnt sich viel Raum und einen offenen Blick mitten in der Stadt. “Bisschen wenig Bäume” meint die Tochter und fast habe ich ein schlechtes Gewissen. Hier könnten Häuser stehen, in denen Menschen wohnen und Bäume, die die CO2-Bilanz verbessern. Aber dann wäre es vorbei mit der großzügigen Weite und der Dom wäre nicht mehr ein romanischer Solitär, sondern nur eine große alte Kirche.

Unseren Weg durch die Sommernacht finden wir wie Hänsel und Gretel im Wald: Der WELTERBEPFAD zwischen Dom und Michaeliskloster ist mit LED-Strefen im Straßenpflaster gekennzeichnet. Die Straßenlaternen werfen Lichtringe auf den Boden. Es ist wunderschön. Man hat sich in Hildesheim viele Gedanken über das Nachtgesicht der Stadt gemacht und das hat sich wirklich gelohnt.

Blick in den INnenhof des Michaelisklosters in Hildesheim
Hier kann man wunderbar schlafen: Michaeliskloster Hildesheim

Das MICHAELISKLOSTER ist mitten in der Stadt und einer der schönsten Orte, an denen man übernachten kann. Abends im Hof vor dem alten Kreuzgang sitzen und die Stille spüren oder morgens erwachen und in Baumwipfel und Kirchtürme blicken ist wundervoll. Das Frühstück ist lecker und alle sind freundlich. Wer eine Pause von permanenter Reizüberflutung braucht – hier bekommt man sie. Die Gästezimmer sind in einem schlichten Funktionsgebäude aus den 50er-Jahren. Terrazzoböden, Linoleum und eine Wendeltreppe mit weißgestrichenem schmiedeeisernen Geländer und grünem Resopal-Handlauf. Die Zimmer sind karg und kahl wie Klosterzellen. Da hängen keine Baumarkt-Triptychons, keine Verlegenheitsfotos und keine frommen Sprüche. Es gibt keinen Fernseher, keinen Spiegel, keine Blumenvase mit künstlichen Gerberas. Ein Tisch, ein Stuhl, ein (hervorragendes) Bett. Ich schlafe dort so fest und tief und traumlos wie selten.

Kulturcampus Marienburg

Der Fußweg zur DOMÄNE MARIENBURG, dem KULTURCAMPUS der Universität, ist reinstes Sommeridyll. Links die Innerste, ein verträumtes Flüsschen, an dessen Ufer ein paar bunte Ruderboote auf ihren Einsatz warten. Rechts Felder und Schrebergärten. In einigen blühen mehr Dahlien als ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Andere haben bezaubernde Lauben. Hier und da hängt eine Deutschlandfahne schlapp vom patriotischen Fahnenmast und sieht trotzig und hässlich aus. Das stört das Idyll ein wenig.

Bunte Kajaks am Flussufer
Sommer an der Innerste.

Die Domäne ist wie ausgestorben. Semesterferien. Aber die Tochter führt uns herum. Die Szenischen Künste sind im Kutscherhaus, die Grafik in der Steinscheune, das Musikinstitut im Stall. Der Burgturm und das “Hohe Haus” stammen noch aus der Erbauungszeit der Burg um 1346. Direkt daneben steht der neue Theatersaal. Die Mischung aus saniertem Mittelalter und Neubau ist beeindruckend. Wenn es die Harry-Potter-Filme nicht geben würde, könnte man sich Hogwarts so vorstellen und ein bisschen ist es das auch.

Häuserfront an der Marienburg
Mix aus Mittelalter und Moderne: Der Kulturcampus Domäne Marienburg

Mitte des 14. Jahrhunderts ließ der Hildesheimer Bischof Heinrich III. von Braunschweig-Lüneburg eine “Trutzburg” in das Sumpfgebiet der Innerste bauen, um sich gegen aufmüpfige Bürger zur Wehr stzen zu können. Heute ist die Burg der Teil der Hildesheimer Universität, der zukünftige Kulturwissenschaftler*innen und Kulturschaffende ausbildet. Hier wird Theater gespielt und geschrieben, gemalt, gezeichnet, musiziert, komponiert, übersetzt und über all das geforscht und nachgedacht. Es macht aus der Domäne vermutlich einen der kreativsten Orte auf dieser Erde. Die Tochter studiert SZENISCHE KÜNSTE. Ich beneide sie ein bisschen und bin furchtbar stolz.

Junge Frau mit kurzen braunen Haaren und schwarzen T-Shirt

 

Rekonstruierte Renaissance

Die historischen Gebäudeteile der Marienburg sind tatsächlich so alt wie sie vorgeben zu sein. Das gilt nicht für den Rest der Stadt. Vieles in Hildesheim ist Fake. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört. Bereits 1947 waren etwa 350 Häuser wieder aufgebaut und die schlichten Nachkriegsbauten der 50er-Jahre prägen das Stadtbild bis heute.

Fachwerkhäuser auf dem Marktplatz in Hildesheim
Zu glatt, zu brav, zu neu: Die rekontruierten Fachwerkhäuser auf dem Marktplatz.

Aber man träumte vom alten Hildesheim und begann in den 80er-Jahren mit der historischen Rekonstruktion des Marktplatzes. Der sieht ein bisschen so aus wie eine Lebkuchenhaus-Ausstellung. Auf den ersten Blick sieht man üppiges Renaissancefachwerk. Auf den zweiten Blick stellt man fest, das alles viel zu gerade, viel zu glatt, viel zu neu ist. Die Gasthausschilder der „Stadtschenke“ oder der „Weinschenke“ scheinen direkt bei Playmobil angefertigt worden zu sein. Die Windbretter auf der dem Marktplatz abgewandten Seite des KNOCHENHAUERAMTSHAUSES wurden 1989 von zeitgenössischen Künstlern gestaltet. Das war keine gute Idee. Sie sind so kitschig wie sehr schlechte Tattoos oder Buchumschläge von Fantasyromanen aus dem Selbstverlag.

Nicht einmal die MICHAELISKIRCHE oder der MARIENDOM sind tatsächlich so alt wie sie vorgeben. In der Michaeliskirche sind nur noch die beeindruckende Holzdecke und ein kleiner Rest der Chorschranke im Original erhalten.

Chorschranke Michaeliskirche Hildesheim
Was übrig blieb: ein kleiner Rest der Chorschranke.

Fast bekomme ich schlechte Laune. Nichts ist echt. Der Zauber ist hin. Ich bin richtig enttäuscht.

Was glücklich macht

Aber es begegnen uns auch immer wieder sehenswerte Relikte aus den 50er-Jahren. Eine Leuchtreklame mit einem sehr schönen Schriftzug. Ein elegant geschwungener Pavillonanbau im Erdgeschoss. Aufwändig gestaltete Sgraffitos. Das schmiedeeiserne Schild einer Zoohandlung. All das hat einen wunderbar verspielten Charme, der mich dann doch richtig glücklich macht.

Schuild einer Zoohandlung in Hildesheim
Dicke Fische. Zoohandlung in Hildesheim

Glücklich macht auch AMEIS BUCHECKE. Kein Buchdiscounter mit den immer gleichen Bestsellerstapeln, sondern ein unabhängiges Buchhandelskollektiv, in dem man Bücher finden kann, die man noch gar nicht gesucht hat. Dort kaufen wir BIS WIR WALD WERDEN von BIRGIT MATTAUSCH, die wir anschließend auf einen Kaffee  treffen. Die Theologin und Autorin hat ein Buch geschrieben, von dem ich schon jetzt weiß, dass es zu meinen Büchern des Jahres gehören wird. Es ist voller wunderbarer, schöner, berührender Sätze. Poetisch, komisch, tapfer und traurig.

Wir machen gemeinsam einen Abstecher zum LITERATURHAUS SANKT JAKOBI. Hier ist Birgit Mattausch “priestess in residence” und macht mit ihrem Team aus der über 500 Jahre alten Pilgerkirche einen Ort (literarischer) Inspiration für Geschichtenliebhaberinnen und Wortakrobaten und für alle, die eine Pause brauchen im Alltag in der Stadt. Für alle Wortverliebten, die meinen, dass man mit Geschichten die Welt retten kann. Und sich selbst auch. Wenigstens ein bisschen.

Im HEIDELBERG kann man schön draußen sitzen und Tapas essen, die köstlich schmecken. Ein warmer Sommerabend in der Stadt. Die Tochter geht. Ich werde sie zu Weihnachten wiedersehen. Tapfer wische ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Einen Moment lang wünsche ich mir, sie wäre noch einmal 13 Jahre alt, würde in meinem Bett liegen und HARRY POTTER lesen, während ich am Schreibtisch sitze.

Aber dann hätte ich keinen Grund gehabt, nach Hildesheim zu kommen. Was schade gewesen wäre. Trotz der Lebkuchenrenaissance aus den 80er-Jahren.

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