Geschwister gehen uns alle an. Wir sind Brüder und Schwestern und diese Menschen, mit denen wir vor vielen Jahren gemeinsam am Mittagstisch, auf der Autorückbank oder in der Badewanne gesessen haben, spielen in unserem Leben eine Rolle. Wenn wir keine Geschwister haben, spielt eben genau das eine Rolle. Wir schleppen Glaubenssätze mit uns herum: die älteren Geschwister sind verantwortungsvoll und vernünftig, die Nesthäkchen kreativ und leichtfertig. Sandwichkinder sind zu bedauern, vor allem die vorletzten, die nicht die Entthronung des nächstjüngeren Geschwisters miterleben. Mädchen mit vielen Brüdern werden kapriziöse Prinzessinnen, Jungen mit vielen Schwestern die perfekten Frauenversteher.
Seit es eine ernstzunehmende wissenschaftliche Geschwisterforschung gibt – etwa seit den späten 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts – stellt sich heraus, dass kaum eine dieser Thesen tatsächlich zu halten ist. Die Stellung in der Geschwisterfolge, das Geschlecht der Geschwister oder ihr Alter haben wohl viel weniger Einfluss auf unser Leben als angenommen. Dennoch sind es Beziehungen, die kaum jemanden kalt lassen.
Die KUNSTHALLE TÜBINGEN hat jetzt diese Beziehungen genauer unter die Lupe genommen und unternimmt noch bis zum 16. April 2023 einen Streifzug durch 500 Jahre Kunstgeschichte und zeigt Geschwister in der Kunst. Aufschlussreich, erhellend, nachdenklich, komisch, berührend, verstörend und alles in allem sehr, sehr sehenswert.
Rudolf Bacher – Zwei Schwestern
Eines meiner LIEBLINGSBILDER zeigt zwei Damen der besseren Wiener Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie sind nicht mehr jung, eine der beiden stützt sich bereits auf einen Stock. Ihre Körper sind bis auf Gesicht und Haaransatz komplett verhüllt, sie tragen Schwarz von der Haube bis zum Muff. Zwei freundliche alte Frauen in Trauerkleidung – aber Samt und Seide, Pelz und Taft laden das Bild mit einer Extraportion Sinnlichkeit auf. Man hört die Röcke rascheln, man spürt die glatte Seide und den weichen Pelz. Ich frage mich, was sich diese beiden Schwestern zu sagen haben könnten, woher sie kommen und wohin sie gehen und wen sie betrauern. Schichten Mögen sie sich? Die Jüngere steht hinter der Älteren. Wird sie sie stützen? War es früher umgekehrt? Hat da die große Schwester auf die kleine aufgepasst?
Es ist ein Bild, das viele Geschichten erzählt. Geschichten über eine jahrzehntelange Beziehung, die der Maler und Akademiedirektor RUDOLF BACHER, der für die „poetische Anmut“ seiner Porträts geschätzt wurde, liebevoll in Szene setzt.
Highlights in der Kunsthalle Tübingen
„Zwei Schwestern“ ist nur eine der vielen Neuentdeckungen, die man in der Tübinger Kunsthalle zur Zeit machen kann. Für die Ausstellung „SISTERS & BROTHERS : 500 JAHRE GESCHWISTER IN DER KUNST“ haben Kunsthallendirektorin Nicole Fritz und ihr Team viele außergewöhnliche Werke aufgetrieben, die eher selten zu sehen sind. Dazwischen warten sie mit ein paar echten Highlights auf: Die mittlerweile längst ikonische Fotoserie über die Brown Sisters von Nicholas Nixon, Geschwisterbilder von Otto Dix und August Macke und ein hinreißend sarkastisches Vierlingsporträt von Cindy Sherman.
Aber „Sisters & Brothers“ ist weit mehr als eine Ansammlung großer kunsthistorischer Namen und man schaut sich die Ausstellung auch nicht an, um vor der Aura des Originals eines großen Meisters auf die Knie zu fallen. Im Gegenteil. Die Kunst wird hier zu einer Einladung, sich mit der eigenen Geschwisterbeziehung auseinander zu setzen.
Eine ideale Beziehung?
Geschwister – das sind die längsten Beziehungen unsere Lebens. Kaum eine andere Bindung wird so positiv bewertet. Die Freundinnen aus dem Chor nenne ich meine „Sangesschwestern“. „Er ist wie ein Bruder für mich“, sagt eine Bekannte über ihren Kollegen und es steht außer Frage, dass das eine Liebeserklärung ist. „Schwestern!“, begrüße ich die Zuhörerinnen auf einer Veranstaltung am Internationalen Frauentag und dann wieder treffe ich die Bundesbrüder einer Studentenverbindung zu einer Stadtführung. „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“, dichtet Schiller und wir finden das immer noch irgendwie gut und leidenschaftlich. „Brüderlichkeit“ und „Schwesternschaft“ sind Sehnsuchtswörter.
Aber oft bleibt es bei der Sehnsucht. Denn letztendlich geht es immer auch um das letzte Stück Erdbeerkuchen, das schönere Zimmer und die Liebe der Mutter. Geschwister sind Rivalen und ausgerechnet die älteste Geschwisterbeziehung der Menschheit endet mit Mord und Totschlag, wenn Kain seinen Bruder Abel erschlägt. Auch wenn es nicht immer so brutal zugeht: Geschwister kann man sich nicht aussuchen und Zwang war eigentlich noch nie eine gute Voraussetzung für eine harmonischen Beziehung.
Am Geschwisterthema kommt niemand vorbei und das gilt nicht nur für die eigenen Brüder und Schwestern. Unsere Onkel und Tanten sind die Geschwister unserer Eltern und wenn wir eigene Kinder haben, läuft das Experiment einer Geschwisterbeziehung ungefähr zwanzig Jahre lang direkt unter unseren Augen ab.
Flämisches Familienidyll
Das Bild, das CORNELIS DE VOS im 17. Jahrhundert von seinen beiden Kindern malt, rührt uns nicht nur, weil Magdalena und Jan Baptist einfach herzallerliebst aussehen. Hübsch herausgeputzt in Spitze und Brokat sitzen die beiden flämischen Bürgerkinder auf dem Boden. Rosige Wangen, blaue Augen, blonde Locken. Niemand widersteht dieser geballten Ladung kindlichen Charmes.
Wer sich öfter fragt, ob die eigenen Kinder beim Training ihrer Konfliktfähigkeit nicht ein wenig übertreiben, träumt von solch innigen Szenen geschwisterlicher Eintracht. Die beiden Kinder des renommierten und wohlhabenden Antwerpener Malers verkörpern damit natürlich auch die geordneten Verhältnisse niederländischer Großbürgerlichkeit, aber die zärtliche Zuwendung, mit der Magdalena ihrem Bruder Pfirsiche und Kirschen reicht, rührt tatsächlich unser Herz. So möchten wir es haben. Gleichzeitig wissen wir, dass es nur selten so idyllisch im Kinderzimmer zugeht.
Unsere Vorstellung davon, wie Geschwister sein sollten, ist geprägt von solchen Bildern. Das empfindsame und bürgerliche 19. Jahrhundert ist voll davon und es wirkt bis heute nach. Genrebilder aus dem 19. Jahrhundert zeigen heitere Szenen geschwisterlichen Miteinanders. Da wird gestrickt, gefüttert, gespielt, musiziert. Die Bilder illustrierten Erzählungen in Zeitschriften wie der GARTENLAUBE und ihre Botschaft wirkt nach 150 Jahren noch immer. Die Großen passen auf die Kleinen auf, Brüder halten zueinander, Schwestern vertrauen sich Geheimnisse an.
Wem das nicht gelingt mit dem eigenen Bruder, der eigenen Schwester, verschweigt es lieber. Die eigene Geschwisterbeziehung nicht gut hinbekommen zu haben ist schlimmer als eine missglückte Liebesbeziehung. Das Ideal geschwisterlicher Liebe ist überwältigend. Jorinde und Joringel, Hänsel und Gretel, Schneeweißchen und Rosenrot – Hand in Hand tapfer gegen alle Unbillen des Lebens, so soll es sein. Wie im Märchen eben.
Asana Fujikawa – Die zwölf Schwäne
Märchenhaft schön, aber auch beunruhigend und verstörend sind die Porzellanpuppen der in Hamburg lebenden japanischen Künstlerin ASANA FUJIKAWA. Ich bin schockverliebt in deren filigrane, pastellfarbene Zerbrechlichkeit, in deren Dynamik und Vitalität. Japanische Traditionen, europäische Märchen und eigene Alltagserfahrungen verbinden sich zu seltsam surrealistischen Figuren. Es sind die Protagonisten ihrer druckgrafischen Bildergeschichten, die sie auf traditionelle japanische Bildrollen malt, die ihre Geschichte beim Entrollen preisgeben: Bilder der fließenden Welt heißen sie. Irgendwann traten die Figuren aus den Bildrollen heraus und wurden zu den kostbaren kleinen Keramikfiguren, deren Farbigkeit und Zerbrechlichkeit an Meißener Porzellan erinnert. Aber sie sind rauer, verrückter, wilder als die blassen Ballerinen aus der königlichen Manufaktur.
ASANA FUJIKAWA hat sich für die 2022 entstandenen Figuren von Andersens Märchen von den zwölf Schwänen und ihrer tapferen Schwester Elisa inspirieren lassen und schreckt auch vor dessen Grausamkeit nicht zurück: Ein Bruder behält einen Schwanenflügel, weil sein Nesselhemd nicht fertig geworden ist, mit dem Elisa ihn erlöst. Schmerzhaft ragt der weiße Flügel aus der Schulter und erinnert daran, dass nicht einmal im Märchen alles perfekt sein kann. „Ich finde diese Figuren. Beim Modellieren spreche ich mit ihnen.“, erklärt Asana Fujikawa und angesichts derer unmittelbaren Lebendigkeit glaubt man ihr sofort.
Das Ende der Idylle
Konflikte, Krisen, Katastrophen – im 20. Jahrhundert geht die liebevolle und liebenswerte Geschwisterutopie in die Brüche. Das Idyll, das es vermutlich nie gegeben hat, wird mit dem Muff des bürgerlichen Zeitalters weggeräumt. Die Kunsthalle setzt das Ende des Traums von der unverbrüchlichen Schicksalsgemeinschaft wirkungsvoll in Szene. Zwei Skulpturen aus Stahl und schwarzen Polyester vor einer gelben Wand thematisieren die Zwänge des Aufeinanderangewiesenseins.
JULIE HAYWARD gestaltet (alp-)traumhafte Formen, die sich umeinander bewege, sich spiegeln und Schatten werfen. Auf den ersten Blick sehen die beiden Installationen aus wie ein Tanz, wie schöne Abendkleider, wie beschwingte Zweisamkeit. Aber sind die schwarzen, fließenden Formen nicht eher Vorhänge, die etwas verbergen und erinnern die Metallringe nicht an Handschellen? „Let’s dance“ nennt die englische Künstlerin aus Österreich ihre Objekte, die zerbreclicher sind als sie auf den ersten Blick ausschauen und irgendwie liegt ziemlic viel Zwang in dieser vermeintlich harmlosen Aufforderung.
Daneben eines der berühmtesten Werke der Porträtfotografie: die BROWN SISTERS. 1975 fotografiert Nicholas Nixon seine Frau Bebe und ihre drei Schwestern. Die Frauen sind zwischen 15 und 25 Jahren alt. Danach fotografiert er die vier Schwestern jedes Jahr wieder. Sie werden älter, Frisuren und Moden wandeln sich, aber die vier blicken unverwandt ernst und schön in die Kamera. Alt werden als künstlerisches Konzept.
Ihnen gegenüber ein paar auf den ersten Blick unscheinbare Zeichnungen der Schweizer Künstlerin MIRIAM CAHN. Auf den zweiten Blick treffen die mit Stecknadeln an die Wand gepinnten Kritzelbilder mitten in Herz und Seele: ein leeres Haus, ein umgedrehter Karren, Gesichter, die schreien, Gesichter, deren Münder versiegelt sind. Eindrücklich verarbeitet Miriam Cahn hier den Suizid ihrer drogenabhängigen Schwester. Geschwisterbeziehungen sind auch immer Geschichten über Liebe und Tod.
Utopien und Neuanfänge
Klassisch schön wie die preußischen Prinzesinnen LUISE UND FRIEDERIKE, die nur als Plot zu bewundern sind, weil sie in Gips und Marmor gerade in der ALTEN NATIONALGALERIE in Berlin Hof halten oder modern und mondän wie Franziska Katz und Lily Kracauer, die Hans Ludwig Katz in kühler neuer Sachlichkeit darstellt: Man sieht auffällig viele Schwestern. Aber sind zwei Frauen auf einem Bild tatsächlich immer Schwestern oder vielleicht doch Freundinnen, Liebende, Tochter und Mutter? Marie 1 und Marie 2 , die zwei wilden, anarchischen TAUSENDSCHÖNCHEN der tschechischen Regisseurin Vera Chytilowa, verraten uns nicht, welches Band sie verbindet. Aber wäre es nicht schön, wenn Schwestern so wären?
Machmal scheint es gut zu gehen. Die beiden 1973 in Brašov in Rumänien geborenen Brüder GERD UND UWE TOBIAS arbeiten seit ihrem Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig zusammen und haben für die Ausstellung in der Kunsthalle einen raumgreifenden und im doppelten Sinne fantastischen Holzschnitt geschaffen. Hieronymus Bosch und die siebenbürgische Folklore standen Pate für ein Werk voll bizarrer Fabelwesen in einer unheimlichen und verführerischen Welt. Die Betrachterin verliert sich in den schönen und abgründigen Gestalten, Pflanzen, Tieren. Wie auf einem Kippbild zeigt sich plötzlich in der Bildmitte Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt, frei nach Caravaggio. Brudermord in Fantasia. Aber drumherum ein betörend schöner Garten Eden. Wunderland.
In einer Ecke der Halle lehnt ein Brett. Partizipative Kunst von ERWIN WURM. Die Spielregel ist einfach: Geschwister sollen dieses Brett zwischen ihre Köper klemmen und dann versuchen, eine Nord-Süd-Ausrichtung zu finden ohne das Brett fallen zu lassen. Es verlangt ein gewisses Maß an Einigkeit, an Bereitschaft, einander zuzuhören – aber dann ist es möglich.
Infos zur Ausstellung:
Sisters & Brothers
500 Jahre Geschwister in der Kunst
Konzept und Kuration: Dr. Nicole Fritz
Kuratorische Assistenz: Zita Hartel und Lisa Maria Maier
Eine Ausstellung der Kunsthalle Tübingen in Kooperation mit Lentos Kunstmuseum Linz
Philosophenweg 76
D-72076 Tübingen
+49 (0) 70 71 / 96 91-0
info@kunsthalle-tuebingen.de
Öffnungszeiten
Mo, Di, Mi, Fr–So 11–18 Uhr
Do 11–19 Uhr
3 Antworten
Großartig! So bin ich aus der Ferne dabei gewesen! Danke!
Vermisse die beiden schwarzen Schwestern, das Lieblingsbild!
Danke für die Komplimente! Du findest die beiden Schwestern, wenn du im Text auf den Link von LIEBLINGSBILD klickst. Leider gibt es kein freies Bild vom Bild undals ich neulich in der Kunsthalle fotografiert habe, standen ständig Leute davor.