Am äußersten Meer

Die Schottin Amy Liptrot schreibt mit “Nachtlichter” ein Buch über Orkney und Alkohol

Nach einer guten Woche auf Orkney im September 2019 ist diese Inselgruppe am Rand der Welt einer meiner Sehnsuchtsorte.
Bei der Suche nach passender Reiselektüre machte ich diese literarische Entdeckung, die mein persönliches „Buch des Jahres“ werden sollte.

„Nachtlichter“ von Amy Liptrot ist die Geschichte einer Heilung. Einer Heilung vom Alkohol, aber vor allem von Wut und Verletzungen, von Heimatlosigkeit und Selbstverlust.

„Nachtlichter“ ist ein Memoir. Ein Bericht über Heimat und Herkunft, über den Ausstieg aus der Sucht und über ein Leben in Freiheit. Und es ist ein Buch über Inseln, Meer und Himmel.

 

Nach ungefähr zehn Jahren, die sie vor allem in London verbracht hat, kommt die Journalistin Amy Liptrot wieder nach Hause, auf den Bauernhof ihrer Eltern im Westen von Mainland, der Hauptinsel von Orkney. Die Eltern leben schon lange getrennt, die Mutter gehört einer Freikirche an, der Vater leidet unter einer bipolaren Störung. Mit keiner Silbe beklagt Liptrot diese dysfunktionale Familie. Der Alltag auf Orkney ist hart und rau und wenig romantisch. Es lohnt nicht, über solche Dinge viele Worte zu machen.

„Nachtlichter“ ist eine Liebeserklärung an diese raue Welt, geschrieben mit der ganzen Zurückhaltung einer Orkadierin. Präzise gezeichnete grandiose Landschaftsbilder, nüchterne Erklärungen von seltsamen Naturphänomenen, Berichte über Sagen und Mythen, Erzählungen über gestrandete Wale, nächtliche Vogelbeobachtungen, Schafzucht und Landwirtschaft verbinden sich zu einer ebenso sachlichen wie eleganten Analyse: wie lebt es sich am Rand der Welt?

Weil ihr das Leben auf Orkney zu eng ist, geht Amy Liptrot in die Stadt. Dort leben viele Menschen auf wenig Raum. Swinging London ist die Gegenwelt zur orkadischen Einsamkeit, aber Weite und Enge gibt es hier wie dort.

Die Stadt ist ein einziger Rausch, verstärkt durch den Alkohol. Amy Liptrot lebt nachts, geht aus, fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt, ist immer in Bewegung, trinkt. Sie verliert Wohnung, Job und Lover, entgeht knapp einer Vergewaltigung und schafft noch gerade rechtzeitig den Absprung aus der Sucht.
Ihren Weg durch den Alkohol beschreibt sie ebenso akribisch, präzise, nüchtern, analytisch wie meteorologische oder astronomische Phänomene auf den Inseln. Kein Mitleid, kein Bedauern, schon gar nicht mit sich selbst.

Amy Liptrot schreibt über Einsamkeit und Alkohol, aber auch über Freiheit und Glück.

Der Ausstieg aus der Sucht, die Rückkehr nach Orkney sind nicht das Ende der Geschichte, sondern ihr Anfang.

Zurück auf den Inseln baut sie Trockenmauern, beobachtet Vögel, zählt die Sterne, liest, schreibt, schwimmt im Meer. Der Weg in ein trockenes Leben ist kein Spaziergang. In jedem Abschied liegt Bedauern. Nie mehr ein Glas Champagner auf einer Vernissage. Nie mehr ein kaltes Bier nach getaner Arbeit. Das geht nicht ohne Schmerz. Auch darüber schreibt sie. Die Auseinandersetzung mit dem Alkohol und mit der Insel verschränken sich. Vom einen weg zum anderen hin.

Den Winter verbringt sie allein im Vogelwärterhäuschen auf Papay. Auf dieser winzigen Insel sieht sie weniger Menschen als Seehunde und lebt in und mit der Natur, im Mittelalter, aber mit WLAN-Anschluss. Zwischen Brot backen und Feuer machen hängt sie an Smartphone und Laptop. Ausgerechnet die neuen Technologien helfen der Vogelwartin bei Umwelt- und Naturschutz. Sie ist keine Aussteigerin, die sich von der Zivilisation abwendet. Im Gegenteil. Ausgerechnet hier, auf dieser Insel am äußersten Meer, übt sie den Umgang mit Menschen ohne Alkohol.

Das Inselleben macht deutlich: Um sich wirklich wild, frei und lebendig fühlen zu können, braucht es einen klaren Verstand und ein waches Herz. Offenheit und Neugier.
Sie schaut genau hin, auf diesem sieben Kilometer langen und zwei Kilometer breiten Stück Schottland: „Je mehr Zeit ich mir nehme, um Dinge anzuschauen, desto lohnenswerter und komplexer erscheinen sie.“

Orkney wird zum Ort der Freiheit. Auf dieser schmalen Trennlinie zwischen Himmel und Wasser, dem Wind ausgesetzt, begreift sie: „Das Leben kann größer und reicher sein, als ich gedacht habe.“

Sie entscheidet sich. Für Stärke, Schönheit und Kunst.

Mit „Nachtlichter“ ist ihr genau das gelungen: starke, schöne, kunstvolle Literatur.

Ich folge Amy Liptrot auf Facebook. Seit Erscheinen von „Nachtlichter“, das in diverse Sprachen übersetzt wurde und mehrere Preise erhalten hat, hat sie zwei Kinder bekommen. Eine hinreißend schöne Frau mit offenem Blick und aufrechter Haltung. Ich freue mich darauf, mehr von ihr zu lesen.

 

Amy Liptrot: Nachtlichter
btb Verlag
ISBN/EAN: 9783442718412
352 S.

 

 

3 Antworten

  1. Ich habe mir das Buch nach Empfehlung von Andrea gekauft.
    Es hat mich aufgesogen, mich in eine Welt mitgenommen, die in mir eine Sehnsucht weckt.
    Die Beschreibung von Andrea ist einfach nur gut und gelungen.
    Zu Hause werde ich Nachtlichter nochmals lesen. Manche Bücher muss ich mir einfach mehrmals gönnen.
    Regina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert