Das Mädchen mit der Leica

Der mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnete Roman war ein Weihnachtsgeschenk. „Weil du doch auch so gerne fotografierst.“ Ich war gespannt und erwartete einen Abenteuerroman – die Geschichte einer Kriegsberichterstatterin im Spanischen Bürgerkrieg – verbunden mit einer Gebrauchsanleitung für bessere Fotos. Meine Erwartungen wurden in dieser Hinsicht gründlich enttäuscht.

Stattdessen erwartete mich ein Kaleidoskop aus Menschen, Orten und Zeiten. Eine opulente Collage aus Erinnerungen an andere Bücher, Filme, Fotos. Ein Labyrinth aus Erinnerungen und Zuschreibungen. Komplex, vielschichtig, faszinierend.

Forever 27

Zudem machte ich die Bekanntschaft mit einer jungen Frau, einer „Forever 27“, die vollkommen unerschrocken und vollkommen frei war. Die sich mit einer unglaublichen Intensität und Kompromisslosigkeit ins Leben stürzte. Die quer durch Europa reiste, nächtelang feierte und diskutierte. In die sich alle verliebten, Männer wie Frauen. Ich auch. Die die Liebe leicht nahm und sich nichts entgehen ließ. Die lernte und arbeitete und die niemand aufhalten konnte.

2007 tauchte in Mexiko ein Koffer voller Bildnegative auf, der im Spanischen Bürgerkrieg verloren gegangen war. Die Fotos stammten von dem legendären Fotoreporter und Begründer der Fotoagentur „Magnum“, Robert Capa, von seinem Kollegen David Seymour und von Gerda Taro.

Gerda Taro hatte Robert Capa 1934 in Paris kennen gelernt. Die beiden wurden ein Paar, Gerda lernte zu fotografieren und 1936 gingen beide nach Spanien und machten Bilder vom Krieg. Ein Jahr später wurde Gerda Taro von einem Panzer überrollt.

Das ist der Stoff, aus dem Romane gemacht werden. Oder Filme. Oder eine Netflix-Serie.

Helena Janeczek schreibt eine Annäherung an eine junge Frau, deren kurzes Leben aufregend genug war, um aus ihr eine Diva der Pariser Exilbohème zu machen, eine Ikone weiblicher Unabhängigkeit, eine zu Unrecht vergessene Künstlerin.

Beziehungen, Erinnerungen

Sie lässt drei Menschen zu Wort kommen, die ihrer Protagonistin eng verbunden waren. Sie hängen ihren Erinnerungen an Gerda nach. Der Freund Willy Chardack während eines Spaziergangs in der amerikanischen Provinz 1960. Die beste Freundin Ruth Cerf bei der Arbeit in Capas Atelier in Paris 1938. Der Ex-Freund Georg Kuritzkes, der 1960 mit einer Vespa durch Rom fährt. Sie alle standen Gerda nahe, auf unterschiedliche Weise. Jetzt lebt die junge Frau nur noch in ihren Erinnerungen, spricht nicht mehr mit eigener Stimme. Sie, die niemandem gehörte, gehört jetzt allen. Man kann auf sie projizieren was man möchte. Sie zu einer Märtyrerin des Unabhängigkeitskrieges machen, zur Widerstandskämpferin, zum It-Girl der Pariser Kaffeehäuser.

Die Zeit ist keine lineare Größe in diesem ungewöhnlichen Buch über eine Fotografin, von der nur ein einziges Foto zu sehen ist.

Gerda Taro, die mit bürgerlichem Namen Gerta Pohorylle heißt und sich einen Namen gibt, der ein bisschen nach Greta Garbo klingt und ein bisschen nach dem japanischen Künstler Taro Okamoto, den sie in Paris kennen lernt, steht immer im Mittelpunkt, auch und gerade über ihren Tod hinaus. Sie ist schön, sie ist mutig, sie ist frei.

Ihre Beerdigung 1937 auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris gerät zu einer Massendemonstration der Kommunistischen Partei, die aus Gerda Taro eine Märtyrerin des antifaschistischen Widerstands macht. Neben Robert Capa folgen Pablo Neruda und Louis Aragon dem Sarg, das Grabmal fertigt Alberto Giacometti.

„Wie immer musste sie das letzte Wort haben, um zu tun, was ihr passte“, sagt jemand über sie.

Ein Kaleidoskop des Exils

Die Biographin mutet ihrer Leserin einiges zu. Eine schier unüberschaubare Menge an Personen, Orten, Begebenheiten. Erklärt wird nichts, alles wird als bekannt vorausgesetzt, die Leserin wird immer direkt mit hineingenommen.

In das Paris der Exilcommunity aus Künstlern und Intellektuellen, dieser ungeheizte, verrauchte, aber nichtsdestoweniger glamouröse Wartesaal der europäischen Geschichte Anfang der 30er-Jahre. In die Leichtigkeit des Seins eines Urlaubs fast ganz ohne Geld an der Côte d’Azur. Nach Berlin oder Leipzig, in kleine Mansarden und schäbige Hotelzimmer, in denen auch in den 20er-Jahren niemand ein Paar nach einem Trauschein fragt. Nach Rom, wo von einer „blonden Dichterin“ die Rede ist, die deutsche Gedichte schreibt.

Man kommt nicht immer mit, aber eigentlich macht das nichts, weil man so ganz hineintauchen kann in die Unsicherheit dieser Zeitläufte, aber auch in den Kosmopolitismus dieser Exilgesellschaft.

Dazu schreibt Janeczek so, wie ihre Protagonisten geredet haben könnte. Ein Jargon wie in einem alten Schwarzweißfilm. Ein Paradies für Liebhaber vom Aussterben bedrohter Wörter. Eine Sprache, die nach Kohleöfen und Gasherden riecht, nach Straßenbahnklingeln und Zeitungsverkäufern klingt. Die sich anfühlt wie Seidenstrümpfe und wollene Leibchen.

„Das Mädchen mit der Leica“ ist eine Hymne auf Freiheit und Lebensfreude, die die Umstände in Moll gesetzt haben. Ein Roman, der zeigt, wie frei eine Frau Ende der 20er-Jahre sein konnte, bevor Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit diese Freiheit wieder einkassiert haben. Unvorstellbar, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglich war, dass eine junge Frau so vogelwild leben konnte.

Ein Buch über eine Fotografin ist es nicht. Aber das macht nichts. Man sollte es trotzdem lesen. 

 

Helena Janeczek
Das Mädchen mit der Leica
Berlin Verlag GmbH – Berlin
352 Seiten

 

 

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