Flensburg im Februar ist still und schön.
Dort bin ich aufgewachsen. Eine behütete 70er-Jahre-Kindheit in einem großen Haus mit Garten auf der Westlichen Höhe, einer der “besseren” Gegenden der Stadt. Im Sommer fuhren wir nach Holnis oder nach Husum. Wer “in die Stadt” ging, bummelte über den Holm und die Große Straße. Das Viertel um den Hafen, der Norden, die Neustadt waren Menschen vorbehalten, die Kinder hatten, mit denen wir nicht spielen durften. Zum Hafen ging man höchstens, um mit dem Schiff nach Glücksburg zu fahren. Das kam selten vor. Warum sollte man mit dem Schiff fahren, wenn man auch das Auto nehmen konnte?
Stadt am Wasser
Erst gegen Ende meiner Schulzeit entdeckte die Stadt ihre Wasserseite. In den kleinen Gängen am Hafen verschwanden die Nutten aus den Fenstern, die Häuser wurden schick saniert und es zogen linksliberale Lehrer mit künstlerischen Ambitionen ein.
Im Sommer fanden Oldtimer-Regatten statt und wir verbrachten viele Abende mit einem Sixpack Flensburger an der Hafenspitze und bewunderten die Träume aus Messing und Mahagoni, die im Wasser lagen. Es gab plötzlich teure Restaurants, hippe Kneipen und ein Schifffahrtsmuseum.
Dann bin ich gegangen.
Wenn ich jetzt nach Flensburg komme, komme ich nicht in die Stadt meiner Kindheit. Ich laufe nicht durch die Straßen in den gepflegten Wohnvierteln, sondern ich gehe ans Wasser. Durch Straßen mit großen, schönen Jugendstilhäusern, deren Jahrhundertwendepracht erst in den letzten Jahren wieder in Mode gekommen ist. Dort liegt auch meine Schule. Ein riesiger, eindrucksvoller Backsteinkasten, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg gebaut wurde. “Deine Lehrer haben bestimmt alle Anzug und Krawatte getragen”, vermutete einmal ein Kommilitone aus Schwaben und er hatte Recht.
An diese Lehrer habe ich (fast) nur gute Erinnerungen. Sie haben einen guten, sicheren Grund für vieles gelegt, was mein Leben seither bestimmt und was es schön und reich macht: Literatur, Kunst, Musik. Die Freude an (fremder) Sprache und die an Geschichte und Geschichten. Ich habe bei ihnen denken und diskutieren lernen dürfen. Bildung war um ihrer selbst willen wichtig und hatte sehr viel mit Freiheit zu tun.
Wenn ich über den Nordermarkt laufe, komme ich am Porticus vorbei, der Kneipe, in der ich das erste Bier und den ersten Appelkorn meines Lebens getrunken habe. Wir saßen auf mit rotem Samt bezogenen Sofas um schwarz lackierte Tische und fühlten uns sehr erwachsen. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr dort und das liegt nicht nur daran, dass ich kein Bier und keinen Appelkorn mehr trinke.
Das Eiscafé ein paar Häuser weiter, in dem ich als Gymnasiastin gejobbt habe, gibt es schon längst nicht mehr. Auch die Marienkirche, angemessener Rahmen für Weihnachtsgottesdienste und Konzerte mit dem Schulchor, habe ich seit Jahren nicht betreten.
Der Hafen im Winter
Stattdessen laufe ich gleich zur Schiffbrücke herunter. Im Februar liegen kaum Boote im Wasser. Keine weißen Ausflugsdampfer, keine Yachten, schon gar keine Oldtimer. Es ist still und leer und nichts lenkt ab von den großen Getreidesilos, den Industrieanlagen, den Klüverbäumen, der Arbeit, dem harten Leben, das hier gelebt wurde bevor die schönen Segelschiffe kamen und die Menschen, für die die kleinen Gänge zum Hafen romantisch sind und nicht armselig.
Im Februar gibt es auch keine Hot-Dog-Buden und keine Eisverkäufer. Gosch bekommt ein neues Dach und ist geschlossen. Das finde ich zunächst schade, aber ein paar Meter weiter, im Kanalschuppen, serviert mir eine sehr aufmerksame junge Frau ein unfassbar leckeres Matjesbrötchen: Frisches, warmes Pizzabrot, milder, butterzarter Matjes, selbst gemachte Remoulade, Rucola und Tomate. Ein Fischbrötchen-Burger auf italienische Art. Dazu ein knackfrischer, kunterbunter Salat. Es ist köstlich.
Vom Kanalschuppen hat man eine gute Aussicht auf die Stadt. Ich schaue auf das Februargrau. Es ist eigentümlich schön. Sommer kann jede.
Ein anderer neuer Ort, einer, an dem ich fast nie war, als ich noch in Flensburg gelebt habe, ist das Museum. Ich erinnere mich an dunkle Räume voller alter Möbel und alter Bilder, durch die man ab und an mit der Schulklasse durchgeschickt wurde.
Discovering Dreesen
Jetzt gehört ein Ausstellungsbesuch fest zu jedem Flensburg-Aufenthalt. Ich habe auf dem Museumsberg hervorragend kuratierte Aussetllungen sehen dürfen, mit originellen thematischen Konzepten und spannenden Werken. Ich erinnere eine unfassbar schöne Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst der Färøer-Inseln, die jetzt, zusammen mit der Musik von Eivør zu meiner Inselsehnsucht beiträgt.
Diesmal präsentiert das Museum eine kleine Sensation. “Discovering Dreesen – Fotograf, Globetrotter, Influencer” heißt sie.
Für eine Kernsanierung des Museums vor einigen Jahren musste das Haus komplett leergeräumt werden. Im Depot fanden sich dabei zwei kleine, schäbige Holzkisten mit über 300 ungeordneten Glasnegativen des 1926 verstorbenen Fotografen Wilhelm Dreesen.
Wilhelm Dreesen eröffnete 1865 in Flensburg ein Fotoatelier und avancierte schnell zu einem ebenso begabten wie gefragten Fotografen. Ich verliebe mich sofort in ein paar Frauenporträts von dichter atmosphärischer Schönheit. Die Modelle mussten damals minutenlang still sitzen, weil die Belichtungszeiten so lang waren. Trotzdem ist nichts Starres oder Steifes in den Bildern, die Fotos wirken so frisch wie die Mädchenporträts von Renoir.
Die technischen Möglichkeiten der Fotografie wurden immer besser. Dreesen probierte jede Neuerung aus und investierte in immer bessere Kameras und Entwicklungsverfahren. Er schuf impressionistische Landschaftsaufnahmen von seiner norddeutschen Heimat, begeisterte sich für den technischen Fortschritt und die Seefahrt und wurde 1887 von der Reederei HAPAG unter Vertrag genommen. Fortan reiste er auf luxuriösen Kreuzfahrtschiffen um die ganze Welt, nach Amerika, Ägypten, Kuba, in die Türkei und immer wieder nach Norwegen. Seine stimmungsvollen Fotos weckten in Werbeprospekten, Schulbüchern, auf Postkarten, in Sammelmappen und opulenten Bildbänden das Fernweh einer ganzen Generation.
Ich freue mich über jedes Foto. Bilder von fremden Ländern und Menschen. Wunderschöne Segelschiffe. Junge Frauen am Strand, ungeheuer lässig und so sinnlich, dass die Bilder damals nur unter der Ladentheke verkauft werden konnten. Die Ostseeküste, immer wieder. Dreesen besaß ein Ferienhaus in Egensund auf der dänischen Seite der Flensburger Förde. Hier trafen sich jedes Jahr eine ganze Reihe von Künstlern, die malten, fotografierten, feierten und den zauberhaften Sommer an der Ostsee genossen.
An der Geltinger Bucht
Am nächsten Tag fahre ich selber hin. An die Ostsee. Ein Freund lebt dort. Da, wo andere Urlaub machen. Von seinem Wohnzimmerfenster aus überblickt man fast die gesamte Geltinger Bucht. Ein paar Koppeln, das Wasser und sehr viel Himmel. Wenn es dunkel ist, blinkt ein Leuchtturm. Es ist wunderschön und schrecklich einsam.
Wir laufen am Wasser, es ist mild und hin und wieder glitzert ein paar Sonnenstrahlen über die Ostsee. Das Spiel von Licht und Wasser wird durch kein einziges Segelschiff unterbrochen, von denen im Sommer Dutzende auf der Förde sind. Die Geltinger Mole ist fast völlig verlassen, nur ein kleines Fischerboot liegt dort vor Anker. Ich möchte auf den Steg hinauslaufen und lande fast im Wasser – alles ist rutschig und feucht. Und still! Die an die Masten klappernden und knallenden Seile sind eines der Sommergeräusche, die man erst wahrnimmt, wenn man sie nicht mehr hört. Ein paar Spaziergänger und Radfahrer begegnen uns, mein Freund kennt sie alle. Leute aus dem Dorf. Andere sind noch nicht da. Die Cafés und Restaurants sind geschlossen, die Ferienhäuser noch verwaist. In den letzten Jahren sind eine Reihe neuer Häuser gebaut worden. Sehr schick, mit riesigen Fensterfronten zur Ostsee.
Wir laufen bis zum Yachthafen in Wackerballig. Auch hier ist alles leer, an Strand steht ein einsamer Tölpel, der aussieht, als ob er sich verlaufen hat.
Als die Kinder klein waren, sind wir oft gekommen. Die Naturstrände rund um die Geltinger Bucht von Norgaartholz bis Wackerballig, die Geltinger Birk mit den vielen Vögeln und den wilden Pferden, die flache Ostsee, in der die Kinder gefahrlos schwimmen konnten, die Knicks voller Heckenrosen und die Koppeln voller schwarzweißer Kühe, all das war Sommerland. Vor allem im Juni, wenn der Raps blüht, Himmel und Ostsee fast unwirklich blau sind und die Sommergäste die Yachthäfen bevölkern. Wenn Eisdielen und Fischbrötchenbuden geöffnet sind.
Jetzt ist es anders. Wir stehen am Wasser und sehen zu, wie die Sonne langsam untergeht. Die Wolken färben sich golden, rosa und violett, das Grau in Grau löst sich auf, die Schatten werden länger, der Wind frischt auf, es wird kühl und die Feuchtigkeit kriecht in meine Winterjacke.
Wir kehren um, setzen uns in die Küche, machen Tee und Brote und schauen uns Fotos an. Von den Kindern und den Enkeln.
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