Freiburg im März

Brücke mit Schaukel über der Dreisam
Schaukeln über der Dreisam

Die Tochter besuchen. Zwischen Regenschauern und blühenden Magnolien, dem ersten Eis in der Nachmittagssonne und Sturmwolken auf dem Schlossbergturm: Freiburg im Frühling ist zauberhaft.

Eis-Exotik in der Wiehre

Schon die Fahrt von Tübingen ist erholsam. Im Flixbus geht es zweieinhalb Stunden durch den Schwarzwald. Dunkle Tannen, sanfte Hügel, Häuser mit fast bis auf den Boden heruntergezogenen Dächern. An diesem sonnigen Vorfrühlingstag ist es sogar im Höllental erstaunlich hell. Ich schaue aus dem Fenster, lese ZUR SEE von Dörte Hansen und höre Musik von Ola Gjeilo. SONG OF THE UNIVERSAL. Wunderschön und ein perfekter Start in zwei freie Tage.

Die Tochter steht am Bahnsteig, das Skateboard unterm Arm, schlank und groß und schön. Eine Wikingerprinzessin in Hosen von Carhartt und einer Lederjacke aus dem Secand-Hand-Shop.

schöne Häuserfassaden mit Balkonen
Villen in der Wiehre

Wir laufen durch die Stadt, zur Bib und am Tanzbrunnen vorbei bis in die Wiehre, dem schönen Villenviertel. Die Sonne scheint, die Gärten erwachen aus dem Winterschlaf. Bei FÖRSTER MAX holen wir uns Eis. Ceylonzimt mit Rosenblüten für die Tochter, weißer Mokka mit Tahiti-Vanille für mich. Es gäbe auch Bergamotte-Fenchelsaat oder Schokolade mit kandierten Kumqats. Der Laden und die Verkäuferinnen sind mindestens ebenso instagrammable wie die Eissorten. Die übrigens köstlich schmecken, auch wenn ich mich frage, ob die Kunst nicht schon wieder darin bestände, ein ganz normales Ertdbeereis herzustellen.

Blühende Magnolien und Säule
Blühende Magnolien und Gründerzeitcharme

Wir sitzen vor der KAFFEE KISTE am Wiehrebahnhof auf der Mauer. Die Menschen laufen im T-Shirt, Schals und Winterjacke über dem Arm. Es ist Frühling, ganz plötzlich und nur kurz, in zwei Stunden wird es schon wieder regnen.

Sommerrollen und Frühlingsgewitter

Die Tochter teilt sich mit zwei anderen Studentinnen eine helle Altbauwohnung. Flohmarktcharme und Makrameeampeln, bunte Blumen und bunte Kerzen. Ein gut sortiertes Bücherregal und ein noch besser sortierter Gewürzschrank. Mädchenkram allüberall, sehr süß und sehr stylish und ich freue mich, dass das Kind es so gut getroffen hat.

Abends gehen wir ins BANOI, ein schnuckeliges vietnamesisches Restaurant. Noch mehr Bambuslampen, noch mehr Grünpflanzen in Makramee und sehr gutes Essen: Gemüse und Meeresfrüchte auf einer heißen Steinplatte, Sommerrollen, Nudelsuppe mit Rindfleisch. Alles frisch, knackig, würzig.

Während wir essen, geht vor dem Fenster die Welt unter. Wetterleuchten und Starkregen, fast schon unheimlich nach dem schönen Nachmittag. Der Frühling legt offensichtlich noch einmal eine Pause ein, am nächsten Morgen ist es kalt und unwirtlich und regnerisch in der sonnenreichsten Stadt Deutschlands.

Freiburg ist eine sehr angenehme Stadt. Groß genug, um als Tübingerin ein bisschen Großstadtfeeling zu genießen, aber hinreichend überschaubar, um auf langen Spaziergängen sehr viel zu sehen. Wer so gerne flaniert und bummelt wie ich hat es gut hier.

Schaufensterbummel und Kaffeepause

Wir laufen ums Münster herum und zum Rathausmarkt, aber am besten gefällt es mir in den kleinen Gässchen in der Gerberau. Liebevoll gestaltete Schaufenster (Wer hat egentlich die Unsitte aufgebracht, die Waren bis ans Fenster zu hängen oder nur noch Plakate vor die Scheiben zu hängen?), Lädschen voll wunderhübsch arrangiertem Kruscht und Krempel. Am schönsten sind die Schreibwarengeschäfte, von denen es in Freiburg einige gibt und die so schöne Namen haben wie CARTOLA oder PULTKULT.

Geschirr in einem Regal
Schöne Dinge in der Gerberau

Ich liebe schöne Papeterieprodukte. Als ich vor vielen Jahren aufs Examen gelernt habe, habe ich ständig darüber geredet, ein Schreibwarengeschäft zu eröffnen, sollte ich durch die Prüfungen fallen. Das war gar nicht so witzig geeint wie es sich anhörte und heute frage ich mich manchmal, ob das nicht auch ganz schön gewesen wäre. Die Läden mit ihren feinen Briefpapieren, exklusiven Füllfederhaltern und Tinte in allen Farben, Notizbücher für alle klugen Gedanken, die sich nur denken lassen, anständige Bleistifte und das hübsche Origamipapier, aus dem Tochter Kraniche faltete, die in großen Mobileschwärmen in ihrer Wohnung hängen.

Ladendekoration
Schöne Arrangements für Flaneure und Bummelanten

Wir trinken Kaffe im POW und essen in der VEGGIE-LIEBE zu Mittag.

Das POW ist ganz frisch renoviert. Klare Farben. Hellblau und Königsblau, Rot und Orange. Klare Linien, alles ist aufgeräumt und hell. Der Shabby Chic hätte sich erledigt, meinte neulich eine Freundin. Hier ist tatsächlich nichts mehr davon zu sehen. Aber in der VEGGIE-LIEBE ist er noch da. Im Fliesenmósaik des Tresens fehlen gekonnt ein paar Kacheln und die grün gestrichenen Wände ziert ein Relief, das geradewegs aus dem DIY-Auftritt für umweltbewsste Kunst stammt. Das Essen ist jedoch köstlich.

Königinnenaussicht

Wir machen einen Nachmittagsspaziergang auf den Schlossberg. Es ist immer noch windig und regnerisch und der dramatische Himmel über Freiburg ist beeindruckend. Aber auf dem Schlossbergturm schaffen wir es nicht bis auf die oberste Plattform. Trotz Schutzgitter. Der Wind pfeift uns um die Ohren, der Turm schwankt, wir trauen uns kaum, die Handys herauszuholen und die Selfies geraten dementsprechend verwackelt. Aber der Ausblick ist grandios. Wir fühlen uns wie die Königinnen.

Blick auf Freiburg im Sturm
Dramatischer Himmel über Freiburg

Noch ein Kaffee, diesmal im CAFÉ AUGUST. Hier gibt es Kaffee aus der Freiburger Kaffeerösterei SCHWARZWILD und wer richtig guten Kaffee liebt, sollte unbedingt dorthin. Mittlerweile hat sich die Sonne wieder hervorgewagt und wir können draußen sitzen. Man ahnt ein bisschen Frühling. Jeder dritte Satz der Tochter beginnt mit den Worten “Im Sommer ist es so schön hier!” Ich nehem mit fest vor, das zu überprüfen.

Junge Frau mit Mütze
Die Tochter im Café

Abends gehe wir ins Theater. Das Kleine Haus vom THEATER FREIBURG hat die schönste Theaterbar, die ich je gesehen habe. Großformatige Schwarzweißporträts des Ensembles an den Wänden, direkt auf den Backsteinen. Ein riesiger, rosafarbener Kronleuchter, Sitzecken mit Lederpolstern, Glühbirnen und allen Formen und Größen über dem Tresen. Ich stelle fest, dass ich schon sehr lange nicht mehr richtig ausgegangen bin und dass mir das fehlt.

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht

Das Stück haut uns um.

DER KRIEG HAT KEIN WEIBLICHES GESICHT von SWETLANA ALEXIJEWITSCH ist eine anderthalbstündige Zumutung, während der wir kaum zu atmen wagen.

Ich wusste nicht, dass bereits im zweiten Weltkrieg Tausdende von Frauen an der Front waren. Nicht nur als Krankenschwestern oder vielleicht noch ial sSchreibkräfte. Nein. Im Schützengraben. Auf dem Panzer. Schwer bewaffnet. Nach dem Krieg hat man ihnen gesagt, sie sollten Absatzschuhe anziehen, sich die Haare machen lassen und das alles wieder vergessen.

Ich erinnere mich an die Geschichten meines Großvaters und meines Großonkels. Auf Geburtstagsfeiern, wenn alle nach dem Kaffee bei Cognac und Likör saßen. Die Kriegserzählungen, die Gefangenschaftsberichte. Auch Frauen hätten solche Geschichten erzählen können, aber niemand wollte sie hören. Alles was wir über den Krieg wissen, wissen wir von Männern. Es gibt noch einen Krieg, den wir nicht kennen. Die belarussische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat Hunderten von Frauen zugehört, wenn diese ihre Erinnerungen an den Krieg erzählt haben. Herausgekommen ist ein “Roman in Stimmen”, den die polnische Regisseurin Malgorzata Warsicka mit Ausschnitten aus IPHIGENIE IN AULIS von Euripides und Kompositionen von Paulina Kühling zu einer musikalischen Performance für vier Schauspielerinnen verdichtet hat.

Wir sind tief beeindruckt. Jeder Satz, jede Bewegung geht direkt unter die Haut. Es ist schrecklich und schön. Ein fantastisches Bühnenbild, eine beeindruckende Choreographie und hervorragende Schauspielerinnen. Ganzkörpergänsehaut. Es dauert lange, bis ich an diesem Abend in den Schlaf finde.

Seeparkglück

Die Tochter studiert seit Oktober 2020 in Freiburg. Die ersten Semester wohnte sie im StuSie, einer Hochhaussiedlung, in der über 3000 Studierende leben. Den Lockdown verbrachte sie größtenteils in einem 12-qm-Zimmer im zehnten Stock, allein mit dem Laptop. Immerhin hatte sie im selben Haus eine Kommilitonin, mit der sie im Seepark spazieren ging. Und sie hat perfekt skaten gelernt in dieser Zeit. Ist im See geschwommen und hat den Schwänen zugeschaut. “Es war nicht ganz schrecklich”, sagt sie. Das StuSie ist auch nicht ganz schrecklich, es gibt ausreichend Grün zwischen den Häusern und eine ausgefeilte Infrastruktur für alle studentischen Bedürfnisse. Aber das Beste ist die Nähe zum Seepark mit dem Flückigersee. Das Gelände um den ehemaligen Baggersee wurde 1986 zur Landesgartenschau zu einem 35 ha großen Freizeitparkt umgebaut. Liegewiesen, Spazierwege, ein Weinberg und ein großer Japangarten – es ist wirklich wunderschön dort.

Weiden am See
Weiden am Flückiger See

Wir sitzen am See, essen Äpfel und schauen den Schwänen und Enten zu. Die Sonne wärmt unsere blasse Winterhaut. Das Wasser glitzert. Was für ein Glück. Freiburg im Frühling ist zauberhaft.

Auf der Brücke am Flückiger See
Seeparkglück

 

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