Eine der wenigen Bahnlinien, die von Tübingen aus in diesen Sommerferien verlässlich fährt, führt über die Alb nach Aulendorf. Deshalb fahren wir dorthin. Der Plan: Ein paar Tage radeln und schwimmen gehen. Sich ein bisschen treiben lassen, ausruhen, gut essen. Das ist zwischen Oberschwaben und dem Bodensee wunderbar möglich.
Barocke Pracht und Freibadsommer
Von Aulendorf geht es nach Bad Waldsee, einem netten kleinen Städtchen mit prunkvollem Rathaus und noch prunkvollerer Barockkirche mit auf einzigartige Weise über Eck stehenden Doppeltürmen. Es ist Markttag, die Straßen und Cafés sind voller Leute, alles ist genauso entspannt wie wir es uns vorgestellt haben. In der Kirche schweben Hunderte Origami-Kraniche unter der Stuckdecke und verleihen dem ganzen Gold und Marmor einen Hauch spielerischer Heiterkeit. Die Kanzel wird von drei dicken kleinen Putti getragen, die aussehen, als könnten sie sich Schöneres vorstellen als dieses Machtmöbel auf ihren Schultern zu balancieren. Von Heiterkeit und Lebensfreude keine Spur. Vielleicht fand der Bildhauer, Gottes Wort zu schultern sei eine zu ernste Angelegenheit, um sie ein paar fröhlich flatternden, pummeligen Engelchen zu überlassen.
Direkt am Rand der Innenstadt liegt das Strand- und Freibad. Wir schwimmen im Stadtsee, direkt vor der Altstadtkulisse und mitten zwischen den üppig blühenden Teichrosen. Das Wetter ist gar nicht so schlecht, aber wir sind die einzigen Gäste. Auch die riesige Liegewiese haben wir ganz für uns. Jedoch verspricht die besondere Lage zwischen Stadt und Natur genau die Freibadsommer, an die man sich immer erinnert und die es nie gegeben hat: endlose Nachmittage zwischen Liegewiese und Badeinsel, Pommes und saure Gummischlangen, herzklopfende Backfischliebe, stapelweise Romane und jedes Jahr ein neuer Bikini.
Kuchenglück und Adrenalinrausch
Nachmittags radeln wir durch eine zauberhafte Landschaft. Kühe auf grünen Weiden, sanfte Hügel (sehr viele Hügel, wir radeln entweder bergauf oder bergab, tertium non datur), wunderschöne Bauerngärten voller Phlox und Sommerastern. Im Bauernhaus-Museum in Wolfegg könnte man schön im Schatten unter großen alten Bäumen sitzen, aber es hat gerade geregnet, die Tische und Stühle sind nass und außerdem gibt es keinen Kuchen. Also fahren wir weiter. Im Café am Schlossplatz in Wolfegg werden wir fündig: Dort gibt es eine Auswahl an exquisiten Kuchen und Torten, die wirklich keine Wünsche mehr offen lässt. Dazu ein entzückendes Interieur und eine behagliche Atmosphäre. Ich bin sehr begeistert.
Kaffee und Kuchen waren eine notwendige Stärkung für die letzte Etappe dieser ersten Tagestour. Die ist ausgesprochen zäh, manche Aufstiege sind richtig giftig und ich muss absteigen und schieben, weil meine Oberschenkelmuskeln ihren Dienst verweigern. In solchen Momenten träume ich von einem E-Bike. Aber irgendwann ist auch der übelste Hügel erradelt und der weite Blick über das Allgäu entschädigt für jede Anstrengung. Die Abfahrten sind himmlisch, manchmal fast zu steil für meinen Geschmack. Ich bin ein richtiger Angsthase, wenn es zu heftig bergab geht. Auf solchen Touren habe ich schon Bremsbeläge verschlissen. Aber es ist wundervoll, so unterwegs zu sein. Die Mischung aus Adrenalin und Anstrengung macht schwindlig. Ein schöner Rausch.
Allgäuer Sommerabend
In Wangen steigen wir im 4K ab. Mich kann man mit schicken Hotels beeindrucken und hier ist es wirklich sehr schick. Nachts werde ich mich allerdings fragen, ob Innenarchitekt*innen darüber nachgedacht haben, dass komplett verglaste Bäder nicht nur sexy Ausblicke auf duschende Menschen gewähren, sondern das ganze Zimmer taghell ausleuchten, sobald jemand auf den Lichtschalter drückt. Da nützt auch der stilvollste Samtvorhang nichts. Aber vielleicht müssen Menschen, die sich in schicken Hotelzimmern gegenseitig beim Duschen zuschauen, nachts (noch) nicht aufs Klo.
Wangen ist wunderhübsch. Viel Mittelalter, ein bisschen Gotik und Barock, alles sehr gepflegt und schön restauriert. Weitläufige Plätze, Türme und Tore – defintiv ein Ort, für den man sich mehr Zeit nehmen könnte. Wir schlendern durch die Altstadt und landen auf dem Platz an der Eselsmühle mit dem großen Mühlrad direkt an der Stadtmauer. Es geht südländisch entspannt zu. Spielende Kinder, angeregte Unterhaltungen, ein schöner Sommerabend. Zum Abendessen im Stadtbräu gibt es Forelle mit Gemüse und Rosmarinkartoffeln, alles frisch aus der Pfanne und einfach köstlich.
Fifty Shades of Rain
Am nächsten Morgen regnet es Bindfäden. Wir frühstücken so lange wir können – was angesichts des exquisiten Büffets kein Problem ist – aber irgendwann müssen wir los. Unser Bett für die Nacht steht in Hagnau am Bodensee und von dort trennen uns einige Kilometer. Wenigstens ist es nicht kalt.
Im Nieselregen radeln wir aus der Stadt hinaus. So schlimm ist es gar nicht. Alles ist leiser, gedämpfter. Schön. Nach einer Weile fällt der Regen in dicken Tropfen. Auch das gefällt mir noch. Mehr als nass können wir schließlich nicht werden und es ist durchaus angenehm, durch diese verträumte Wasserwelt zu fahren.
Dann wird es windig und der Regen kommt fein und nadelscharf von der Seite. Das ist bereits anstrengend. Auf einer Hochebene wechselt das Geniesel in einen wütenden Schauer, der uns binnen Minuten völlig durchnässt. Jetzt gießt es. Das Wasser läuft aus meiner nassen Hose in meine Schuhe, wo es bei jedem Pedaltritt hin und herschwappt.
Wir radeln stur den Wegweisern hinterher, glücklicherweise ist der Radweg so perfekt ausgeschildert, dass kein Vertun möglich ist. Ich freue mich über die immer kleiner werdenden Kilometerangaben. Von diesem wilden Ritt durch den Regen wird es kein einziges Foto geben, obwohl es sich gelohnt hätte. Die Wolken hängen tief und anthrazitfarben über den grünen Wiesen – es sieht fast aus wie in Schottland und uns ist klar, dass dieser Regen ein fairer Preis für dieses himmlische Grün um uns herum ist.
Der dichte Schauer schwächt sich ab zu einem feinen, satten Regenvorhang – und plötzlich ist es still. Kein Regen. Kein Wind. Der Himmel reißt auf und gönnt uns den Ausblick auf ein paar Quadratmeter blauen Himmel. Ich bekomme sofort gute Laune. Neue Kraft. Radle schneller. Finde alles wieder wundervoll. Und meine Hose und mein Anorak sind tatsächlich nach zehn Minuten fast trocken.
Dann ist die Atempause vorbei und es fängt wieder an. Wind, Regen, Regen, Wind. Noch fünf Kilometer bis Kressbronn. Noch drei. Noch ein paar hundert Meter.
Kaum See am Bodenseeradweg
Wir fahren zum Bahnhof und nehmen den Zug nach Friedrichshafen, der gerade im richtigen Monent auf dem Bahnsteig wartet. Dank Deutschlandticket können wir einfach einsteigen. Unsere Räder stehen etwas unordentlich im Weg herum, aber die Zugbegleiterin hat Mitleid mit uns tropfenden Gestalten und bis Friedrichshafen sind es auch nur zwei Stationen.
Dort gibt es Kaffee mit Butterbrezeln und Apfelkuchen und es hört endlich auf zu regnen. Die letzten zehn Kilometer bis Hagnau, wo unser Bett steht, bleiben wir trocken.
Der Bodenseeradweg ist an manchen Strecken leider mittlerweile eine der unattraktivsten Radwege die ich kenne. Vom See ist nichts zu sehen. Dafür breite Autostraßen und ständiger Lärm, riesige Kreuzungen, Umwege, Gewerbegebiete, Wohngebiete. Alles, nur kein Bodensee. Nach dem Regenritt durch das stille, grüne Allgäu ist das ziemlich ernüchternd.
Bodenseebrandung und Bodenseeblick
Hagnau hingegen ist wunderhübsch. Ein richtiger Ferienort, Pensionen, Cafés, schöne Wege am Wasser. Wir gehen schwimmen und toben in der Brandung. Es ist fantastisch, aber auch ein bisschen verrückt. So habe ich den See noch nie erlebt. Fast wie an der Nordsee, es irritiert mich, dass das Wasser nicht salzig schmeckt.
Wir haben uns in der Sonnenstube einquartiert, einem süßen und verwinkelten kleinen Hotel mit einem schönen Blick auf den See. Jasmin und ihre Tochter Ronja nehmen uns in Empfang. „Eure Räder könnt’s in den Schopf stellen. Kaffee und Tee sind auf dem Zimmer und wenn ihr irgendetwas braucht, dann sagt‘s Bescheid.“
Herzlich und familiär geht es bei ihnen zu. Kein Wunder, dass es abends in der gemütlichen Wirtschaft keinen freien Platz mehr gibt. Aber man rückt für uns gerne ein bisschen zusammen und zum Abendessen gibt es geräucherte Felchen, Gemüseflammkuchen und viel Salat. Wieder schmeißen Jasmin und Ronja den Laden und sorgen dafür, dass sich alle wohl fühlen. Sehr persönlich, sehr liebenswürdig, sehr entspannt und gleichzeitig fix und tüchtig. Solche Menschen sind ein echter Glücksfall für das Hotel- und Gaststättengewerbe.
Blitzblau und eiskalt
Am nächsten Morgen ist der Himmel blitzblau. Wunderschön. Der See glitzert. Wir wollen ins Wasser und radeln Richtung Immenstaad, bis wir eine hübsche kleine Badebucht finden. Ich freue mich so darauf, in dieses glitzernde Blau hinaus zu schwimmen.
Ich schaffe drei Züge. Oder vier. Das Wasser ist so kalt, dass ich keine Luft bekomme. Irgendjemand muss über Nacht einen Eisberg in den See gekippt haben. Ich bin ein Nordseekind. Wenn wir uns nicht getraut hätten, bei einer Wassertemperatur von knapp 16 Grad schwimmen zu gehen, hätten wir ganze Sommer auf dem Trockenen gesessen. Aber das hier sprengt die Grenzen meiner Belastbarkeit. Ich sehe zu, dass ich wieder an Land komme, freue mich sehr über einen kuscheligen Pulli und ziehe sogar Socken in die Sandalen.
Licht und Leben in Fülle
Wir radeln nach Friedrichshafen und machen in der Schlosskirche eine letzte Pause vor der Rückfahrt. Viel sehr weißer und sehr kunstvoller Stuck, die Kirche wurde 1702 erbaut und war die größte Barockkirche am Bodensee. Im Zweiten Weltkrieg wurde die gesamte weißgoldene Zuckerbäckerpracht zerstört und schon 1948 begann man mit der Wiederherstellung. Als ob man in dieser Zeit nichts Besseres zu tun gehabt hätte – aber vermutlich war das wirklich das Beste, was man tun konnte: Für Arbeit, Lohn und Brot sorgen und etwas Schönes erschaffen. Den Menschen, die gerade die zwölf dunkelsten Jahre hinter sich hatten, die man sich vorstellen kann, wieder eine Vorstellung von Licht geben, von Gnade und von einem Leben in Fülle.