Leben. Lernen. Schreiben. Kunst und Kirche. Jahresrückblick 2021

Eine Frau mit geschlossenen Augen steht vor einer Waldlandschaft

2021 war kein einfaches Jahr. Es war fordernd und anstrengend. Aber es hat mich wirklich weitergebracht. Ich habe gelernt, gelesen und geschrieben, ich bin vielen außergewöhnlichen Menschen begegnet und ich habe an wunderschönen Projekten gearbeitet. Ich liebe, was ich tue! Ein Jahresrückblick.

 

Langlauf-Wintermärchen

Der viele Schnee war die größte Freude in diesem zähen Lockdown-Winter. Bereits Mitte Dezember waren auf der Schwäbischen Alb die Loipen gespurt. Bis weit in den Februar hinein bin ich auf über zehn Langlaufausflüge gekommen, ein echter Rekord für mich. Manchmal sind wir schon früh morgens mit Bahn und Bus nach Traifelberg oder Undingen gefahren, um dann eine große Runde in der menschenleeren Winterlandschaft zu drehen. Oder ich bin mit einer Kollegin nach Salmendingen. Oder auf die Raichbergloipe. Und einmal dann doch noch in den Schwarzwald auf die sogenannte Zollstockloipe, die so heißt, weil man immer zwischen dem (gelben) Baden und dem (schwarzen) Württemberg hin- und herfährt. Es war traumhaft.

Frau Bachmann im Schnee
Wintermärchen auf der Schwäbischen Alb

Ich bin eine miserable Skiläuferin. Wer in Flensburg aufgewachsen ist, hatte in den 70er-Jahren kaum Möglichkeiten Ski fahren zu lernen und ich hatte das auch nie vermisst. Vor fünf Jahren war ich mit meiner Familie im Winter im Bregenzer Wald und mein Mann verbrachte Stunden damit, mir beizubringen, auf diesen langen dünnen Zaunlatten durch den Schnee zu rutschen. Er fährt furchtbar gerne und sehr gut Ski und für diese Vormittage auf der Anfängerloipe hat er ganz sicher ganz viele Karmapunkte bekommen. Nach drei Tagen hatte ich zum ersten Mal diesen Magic Moment: Ich glitt mühelos durch den verschneiten Wald und es war einfach wunderbar. Seitdem mute ich allen Menschen, die sich darauf einlassen, meine mageren Langlaufkünste zu. Bremsen kann ich immer noch nicht. Wenn es zu lange zu steil bergab geht, schnalle ich die Skier ab, laufe den Abhang hinunter und stelle mich unten wieder drauf.

Wenn ich niemanden auftreiben konnte, der mit mir Ski fahren ging, zog ich zu Fuß los. Allein, mit Freund*innen, mit meiner Tochter. Wir unternahmen lange Spaziergänge durch ein Winterwonderland direkt vor der Haustür.  Im Winter habe ich immer weniger zu tun, denn Stadtführungen im Januar sind rar gesät, aber in diesem Jahr war mein Kalender wochenlang genauso weiß wie der Schnee. Schreiben kann ich auch, wenn es dunkel ist. Also nutzte ich fast jeden halbwegs schönen Tag für diese stille, verzauberte, weiße Welt. Ich schippte sogar freiwillig Schnee. Soviel davon hatte es seit Jahren nicht gegeben und er schien mir wie eine Belohnung für das Ausharren in diesem langen zweiten Lockdown.

 

Spielraum! 7 Wochen ohne Blockaden

Eine Gartenmauer mit Gittertor vor einem Haus
Hölderlins Gartenmauer

Ich hatte es mir so schön vorgestellt: an jedem Mittwochnachmittag in der Fastenzeit vor Ostern wollte ich zu einem kleinen Spaziergang einladen. Mit einem passenden Impuls und viel Zeit für Begegnungen und Gespräche. Das hatten wir doch alle so nötig nach diesen ganzen Kontaktreduzierungen! Aber natürlich machte mir Corona abermals einen Strich durch die Rechnung. Sämtliche Veranstaltungen mussten wieder abgesagt werden. Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Ich konzipierte einen Spaziergang rund um die Tübinger Stiftskirche, auf dem ich Geschichten aus Tübingen mit den Texten und Impulsen aus der Fastenaktion der evangelischen Kirche “7 Wochen ohne” kombinierte. An einem klirrend kalten Februarsamstag zogen die Stiftskirchenpfarrerin und ich durch die Stadt und sprachen die von mir geschriebenen Texte ein. Ein Outdoor-Podcast, den wir auf der Website der Stiftskirche Tübingen veröffentlichten. Jeden Mittwoch stellte ich den Text für die kommende Fastenwoche, garniert mit schönen Fotos von Tübingen, auf Facebook ein.

Es funktionierte tatsächlich! Auf der Straße, in der Kirche, am Telefon oder per Mail erzählten mir Menschen, dass sie sich mit Kopfhörern und Smartphone ausgerüstet auf diesen kleinen Audio-Walk begeben hätten. Oder sie lasen die Texte. Der Aufwand hatte sich also gelohnt. Obendrein hat es auch richtig viel Spaß gemacht, ich habe wahnsinnig viel gelernt, es war ein wunderbar kreativer Moment in meinem Leben und anscheinend habe ich tatsächlich in diesem nicht enden wollenden Winter ein paar Menschen unterhalten und zum Nachdenken gebracht.

 

Testen, testen, testen

Anfang März kam eine Mail vom Bürger- und Verkehrsverein Tübingen: Man suche Personal für eine Corona-Teststation. Ob ich Lust hätte, dort zu arbeiten. Ich war heilfroh, dass es irgendetwas gab, was mir in diesen beschäftigungslosen Zeiten meine Miete zahlen half und sagte zu. Von da an verbrachte ich drei Monate lang einige Zeit damit, Namen und Adressen in einen Computer zu tippen, in fremden Nasenlöchern zu bohren und fremder Leute Rotz auf ein Testkit zu träufeln.  Ich konnte meine Wohnung und meinen Schreibtisch verlassen, sah viele Menschen und tat etwas, das weder besonders anstrengend noch besonders kompliziert war und deshalb meinem gestressten “Pandemic Brain” sehr entgegen kam. Außerdem hatte ich das gute Gefühl, aktiv etwas zur Beendigung dieser Seuche, die mein Leben im März 2020 in eine wild schleudernde Waschmaschine verwandelt hat, beitragen zu können. Es hat mir tatsächlich gefallen.

Menschen an einer Corona-Teststation
Testen, testen, testen. Wir schaffen das.

In den ersten zwei Wochen waren wir noch völlig analog. Wir behalfen uns mit Nummernblöcken aus der Gastronomie, schrieben die Namen der Testpersonen auf Listen und klebten mit Prittstift die Nummern dahinter. Ich stand an einem Bistrotisch, die frisch Getesteten standen in gebührendem Abstand um mich herum und ich rief wie beim Bingo die jeweiligen Nummern auf. Es war primitiv, aber es funktionierte und war erstaunlich witzig. Abends war ich heiser. Ende März stieß ich zufällig auf einen Artikel in der Süddeutschen, der über die Tübinger Teststrategie berichtete. Der Text schilderte meinen Einsatz mit einer guten Portion liebevollem Spott, endete jedoch: “Wenigstens wissen sie sich zu helfen und bewahren ihre gute Laune.” Das hat mich echt gefreut.

Dann wurden wir professioneller, wir bekamen Computer, es gab QR-Codes, unser provisorisches Labor in der Touristik-Info wurde so weit optimiert wie es unter den Bedingungen möglich war. Pro Tag konnten wir über 500 Menschen testen. Etwa jeden zweiten Tag fischten wir jemanden mit einem positiven Testergebnis heraus. Ich hatte nie Angst gehabt, mich selbst anzustecken, aber angesichts dieser glücklicherweise so mageren Ausbeute schwand meine Sorge noch mehr: es war wirklich ein sehr großer Heuhaufen, den wir durchsuchten, um sehr wenige Nadeln darin zu finden.

Wir testeten uns in Tübingen ein bisschen aus dem Lockdown heraus. In der Stadt fand wieder so etwas wie Leben statt. Die Leute saßen im Straßencafé, die Läden waren geöffnet und irgendwann wurden sogar die Stocherkähne auf den Neckar gelassen. Und dann war der Sommer da und die Teststation wurde nach drei Monaten Betrieb wieder abgebaut. Ich war fast ein bisschen melancholisch, als ich zum letzten Mal meinen OP-Kittel und das Haarnetz in den Wäschesack stopfte.

 

Predigen lernen

Als Schülerin hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Theologie zu studieren, um Pastorin zu werden. Aber ich habe mich dann letztendlich nicht getraut. Manchmal habe ich das bedauert, aber letztendlich bin ich sehr glücklich mit meinem selbstgebastelten und unorthodoxen Beruf. Der Kontakt zur Kirche blieb allerdings immer. Vor acht Jahren habe ich mich in den Kirchengemeinderat wählen lassen. Ich gestalte und organisiere gern, ich habe gern Verantwortung. Aber vor allem reiße ich mich um Lesedienste, Impulse und Andachten und ich feiere unfassbar gern Abendmahl. Ich liebe sämtliche liturgischen Rituale, die poetischen Bilder der Psalmen, die rhythmische Kraft, die in den Gesten und Worten liegt, das große Gefühl von Verbundenheit beim Vaterunser, die Freude beim Segen.

Lettner Stiftskirche Tübingen
Stiftskirche Tübingen

Ich hielt Grußworte und Ansprachen. Ich liebte es, mich mit Bibelworten auseinander zu setzen und Texte zu verfassen, mit denen ich Menschen berühren konnte. Davon wollte ich mehr.

In den Weihnachtsferien stieß ich auf eine Seite, die über die Ausbildung zur Prädikantin informierte. Mir war klar: genau das will ich machen. Zwei Wochen später war ich angemeldet.

Seitdem feiere ich alle paar Wochen Gottesdienst in irgendeiner Gemeinde in und um Tübingen. Ich denke über den Predigttext nach, lese, was andere dazu geschrieben haben, setze mich mit Predigtvorlagen auseinander, eigne sie mir an, verrühre sie miteinander, siebe sie durch und mache meins daraus. Ich lese Predigten wie ein besonderes literarische Genre. Ich finde Vorbilder. Allen voran Kathrin Oxen. Tröstlicher, poetischer, befreiender kann man das Wort Gottes nicht unter die Leute bringen. Aber es gibt noch viele andere. Bettina Schlauraff. Christiane Quincke. Stefanie Schardien. Gerlinde Feine. Birgit Mattausch, mit der ich vor vielen Jahren im Einkaufszentrum von Nürtingen-Rossdorf Himbeerkuchen gegessen habe und deren Predigtslam über Einsamkeit in dem Fach für die ganz wichtigen Dinge in meinem Filofax liegt.

Für einen Gottesdienst brauche ich etwa anderthalb Tage Vorbereitungszeit. Predigt schreiben, Gebete formulieren, Lieder heraussuchen. Ich komme Gott sehr nahe dabei und ich finde etwas wieder, was mir in den letzten Jahren mehr und mehr abhanden gekommen ist: Die Freude am Schreiben. Das Glück, meinen Gedanken und den Bildern in meinem Kopf eine sprachliche Form zu geben. Keine PR-Texte, keine Pressemitteilungen, keine Zeitungsartikel. Sondern kreatives, poetisches Reden von Gott.

Bücher und Papier
Prädikantinnen-Proviant

Ich darf lernen. In den Prädikantenkursen gemeinsam mit meinen Kolleg*innen. Bei meiner wunderbaren Mentorin, die mir viel Freiheit gönnt und mich behutsam wachsen lässt. Die meine Predigten liest und kommentiert und die immer, immer besser werden, wenn ich mich auf diese Kommentare einlasse. Danke, Susanne.

An Himmelfahrt habe ich meinen ersten eigenen Gottesdienst in der Stiftskirche gefeiert. Ich war so aufgeregt, dass ich kaum atmen konnte. Als Gästeführerin und Kunstvermittlerin ist es mein Beruf, vor anderen Menschen zu sprechen. Ich halte Vorträge, moderiere Diskussionen und Veranstaltungen und bin bei Galakonzerten und Filmfestivaleröffnungen auf der Bühne gestanden. Ich bin eine richtige Rampensau. Aber das hier war anders. Es war wie ein Nachhausekommen. Ein eingelöstes Versprechen. Und ich wollte unbedingt, dass es mir gelingt.

Jetzt, etwa zehn Gottesdienste und ein Jahr weiter, bin ich überzeugt, mir mit diesem Amt ein riesiges, wundervolles Geschenk gemacht zu haben.

 

Madame Tübingen darf endlich wieder auf die Straße

Es war kein Aprilscherz: Am 1. April beschloss ein Ehepaar mit zwei kleinen Töchtern, einen Ausflug nach Tübingen zu unternehmen und eine Stadtführung zu buchen. Es war der erste Auftrag im Jahr und ich war überglücklich. Gästeführerin sein – das ist das, was ich am liebsten mache und am besten kann. Das mache ich seit über zwanzig Jahren und meine Familie und ich leben zu einem großen Teil davon. Im Frühjahr 2020 wurde ich von jetzt auf sofort ausgebremst. Es war ein absoluter Alptraum.

Nach drei Monaten wagten sich einige wenige Mutige wieder aus ihrem Versteck. Meistens waren es Familien, die gerne etwwas gemeinsam unternehmen wollten, das an der frischen Luft stattfand. So viele Stadtführungen zu Geburtstagsfeiern wie in diesem Sommer habe ich noch nie zuvor gemacht.

Frau Bachmann am Holzmarkt
Vor mir die Gäste, hinter mir die Stadt.

Im November war wieder Schluss. Stadtführungen, Museumsführungen – nichts ging mehr. Ich wurde fast verrückt. Das Schlimmste war nicht einmal, kein Geld zu verdienen. Am schlimmsten war es, sich volllkommen überflüssig und ungebraucht zu fühlen. Oder sogar gefährlich. Ich schien eine Art Aerosolschleuder zu sein, die tödliche Viren verbreitet, indem sie nur redet. Mir ging es richtig schlecht.

Mit der Familie, die es am 1. April wagte, mit mir durch die Stadt zu gehen, bin ich auf den Turm der Stiftskirche gestiegen. Vor allem die Mutter der beiden Mädchen genoss den Blick über die Stadt. Es war ihr Geburtstag und ich konnte ihr in diesen pandemischen Zeiten eine echte Freude machen. Das war ein Geschenk.

Von da an wurde es langsam besser. Die Kunsthalle öffnete wieder und ich zeigte ein paar Gruppen die coolen, minimalistischen Papierarbeiten von Karin Sander. Die ersten Schulklassen kamen. Anfang Juni war es dann so, als hätte es nie einen Lockdown gegeben. Fast täglich klingelte das Telefon und jemand buchte eine Stadtführung. Ich nahm alles an, was ging. An den Samstagen hatte ich oft drei Gruppen an einem Tag zu Gast. Exkursionen, Themenführungen, ein paar Pressereisen – Tübingen schien eine regelrechte Touristenhochburg geworden zu sein.

Es war wundervoll. Madame Tübingen durfte endlich wieder auf die Straße.

Im November hagelte es angesichts rasant steigender Inzidenzen und Hospitalisierungszahlen wieder Absagen. Aber dieses Mal bin ich gelassener. Ich weiß: ich werde auch diesen Winter überstehen. Im nächsten Frühjahr werden sie wieder anrufen und fragen, ob ich Zeit für sie habe. Und ich werde alles tun, um so vielen Menschen wie möglich meine Lieblingsstadt zu zeigen.

 

Ein Selfie mit Marina Abramovic

“Unglaublich. Was hast du für ein Glück”, kommentierte ein alter Schulfreund meinen Facebookpost nach der Pressekonferenz mit Marina Abramovic. Ich kann ihm nur zustimmen. Diese großartige Ausnahmekünstlerin zu treffen war tatsächlich ein großes Glück.

Ich arbeite seit zehn Jahren als Kunstvermittlerin für die Kunsthalle Tübingen. In dieser Zeit habe ich ein paar sensationelle Ausstellungen erlebt, viele interessante Künsterlinnen und Künstler kennen gelernt, neue Perspektiven auf die Welt bekommen. Aber noch nie hat mich eine Künstlerin mit ihrer Kompromisslosigkeit, ihrer Intelligenz, ihrer Haltung und ihrer Energie so beeindruckt wie Marina Abramovic.

Marina Abramovic steht vor Farbfeldern in Rot-Gelb-Blau.
Pure Energie. Marina Abramovic in der Kunsthalle Tübingen

Natürlich hatte ich vor der Ausstellungseröffnung viel gelesen und viele Videos geschaut. Ihre Autobiographie DURCH MAUERN GEHEN war ganz ohne jeden Zweifel mein diesjähriges Buch des Jahres. Ich meinte zu wissen, was mich erwartete, als ich zur Pressekonferenz in die Kunsthalle kam.

Aber es hat mich umgehauen. Die unfassbare Präsenz von Marina Abramovic, ihre ansteckende Warmherzigkeit und ihre freundliche Professionalität haben mich sehr beeindruckt. Man kann tatsächlich ein absoluter Weltstar sein und die Journalistin einer kleinen, anzeigenfinanzierten, regionalen Wochenzeitung genauso ernst nehmen wie den Feuilletonchef der ZEIT. Nach den Präsentationen und Fragerunden kamen alle möglichen Menschen auf Marina Abramovic zu, um sich Bücher  signieren zu lassen. Oder sie baten um ein Selfie. Das wollte ich auch. Als ich an der Reihe war, war ich so aufgeregt, dass ich den Auslöser von einem Handy nicht fand. “Don’t hurry”, beruhigte sie mich. “We have plenty of time.”

Ich trieb mich stundenlang in der Ausstellung herum. Schaute in Dauerschleife  REST ENERGY, die Performance, in der Marina Abramovic und Ulay gemeinsam einen Bogen durch die Verlagerung ihres Körpergewichts spannen. Der eingelegte Pfeil ist auf Marina gerichtet. Ließe einer von beiden los, wäre sie tot. Setzte mich auf den Boden vor THE CURRENT und ließ mich einfangen von der Energie, die von dem Video ausgeht. Verbrachte lange Zeit IN THE KITCHEN, der Hommage an Teresa von Avila. CARRYING THE MILK rührt mich in seiner Einfachheit, Schönheit und Demut zu Tränen.

Ich bin vollkommen marinisiert.

 

Wandern gehen

Die Urlaubstage in diesem Jahr kann ich an Händen und Füßen abzählen. Eine knappe Woche im Mai in Flensburg, ein paar Tage in Österreich im Juni und vier Tage in Naumburg und Leipzig im September. Das war’s. Aber dazwischen gab es kleine Fluchten. In den Schönbuch oder auf die Alb.

Ein blühender Baum vor blauem Himmel
Apfelblütentraum am Albtrauf

Ich bin in den letzten Jahren viel gereist. Immer wieder nach Südfrankreich, außerdem an den Lago Maggiore, nach Zypern, nach Paris,  in die Schweiz, nach Ostfriesland, nach Luxemburg, fast jedes Jahr nach Wangerooge, nach Orkney und dazu kamen noch diverse Wander- und Motoradausflüge oder Wochenenden bei Freunden oder der Familie. Und dann zwei Jahre lang fast nichts.

Aber die wenigen Ausflüge waren allesamt eine Wohltat. Es war sogar schön, endlich einmal wieder in einem anderen Bett zu schlafen als dem eigenen. Den Alltag zu unterbrechen, draußen zu sein, Zeit zu haben.

Auf dem Friedhof des verlassenen Dorfes Gruorn stehen, mitten auf dem Truppenübungsplatz bei Münsingen. Auf der Lauter Kanu fahren. Auf den Schönbuchturm steigen und den Wald unter sich liegen sehen wie eine riesige grüne Badematte. Ein Wald von oben ist ein sehr seltsamer Anblick. Eine Drei-Tausender-Tour auf der Alb unternehmen und beim Abstieg weiche Knie zu bekommen. Durch einen verregneten Märchenwald laufen und über Hängebrücken balancieren. Im dichten Nebel wandern und einen Schwarm Krähen aufscheuchen, den wir hören, aber nicht sehen.

Felsentor auf der Schwäbischen Alb
Alb-Traum: Das Teufelstor im Fehlatal

Im Vorfrühling ein erstes Picknick in einer verfallenen Burgruine genießen. Sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen, die blaue Mauer der Schwäbischen Alb vor Augen. Durch blühende Streuobstwiesen laufen oder durch einen Wald voller Bärlauch. Endlich wieder nach Österreich fahren, in die Hütte im Bregenzer Wald, in der meine Kinder einen großen Teil ihrer Schulferien verbracht haben. In einem eiskalten Bergsee schwimmen. Über Wiesen gehen, die duften wie Schweizer Kräuterzucker. In einer kleinen Kapelle eine Kerze anzünden und dankbar sein für jeden Ort, der noch einigermaßen heil zu sein scheint.

Wandern gehen. Für mich ist die langsamste auch fast die schönste Form der Fortbewegung. Das Herzschlagtempo lässt Zeit zum Betrachten, Denken, Träumen. Man ist in Bewegung, aber gerät nicht außer Atem. Die Füße am Boden, den Kopf in den Wolken. Nichts ist erholsamer.

Wir sind  viel spazieren gegangen in diesem Coronajahr und das war gut und schön und richtig. Vielleicht ist es tatsächlich das, was ich retten möchte aus dieser bleiernen Zeit. Aber wandern gehen ist anders. Eine Wanderung ist tatsächlich eine richtige kleine Reise. Man packt Proviant ein, ein zusätzliches Kleidungsstück, ich nehme auch immer ein Buch mit. Und es gelingt mir tatsächlich immer, selbst an einem einzigen Nachmittag, mich komplett aus meinem Alltag herauszuwandern.

Wald von oben
Der Schönbuch von oben

In diesem Jahr waren diese Touren besonders kostbar. Echte Auszeiten, in denen es mir gelang, alles fortzuschieben, was schwierig und unsicher war in meinem coronageschüttelten Leben.

 

 

Kunst erklären

Noch nie habe ich so viel über Kunst gelesen, gelernt und geredet wie in diesem Jahr. Absolutes Highlight in meinem Leben als Kunstvermittlerin war sicherlich die Begegnung mit Marina Abramovic, aber es gab noch viele andere spannende, anregende oder auch nur sympathische Kunsterlebnisse. Die sehr bemerkenswerte Ausstellung “Farbrausch” mit Werken von Christopher Lehmpfuhl im Schloss Gottorf in Schleswig zum Beispiel. Christopher Lehmpfuhl arbeitet “en plein air” wie die Impressionisten. Dafür stellt er sich auch schon mal an einen Kraterrand auf Island oder ein schmales Felsplateau in den Alpen oberhalb der Baumgrenze. Dort trägt er mit den Händen dicke, plastische Farbschichten auf riesigen Leinwänden auf, die allesamt die Kraft und Freiheit ihrer Entstehungsorte in sich tragen.

Ich werde auf Pressetermine eingeladen wie den mit Annett Zinsmeister, die im Tübinger Philosophenweg die fensterlosen Fassaden des achteckigen Hauses, die normalerweise eine graue, geriffelte Oberfläche aufweisen, in achteckige Tunnel verwandelt hat, die die Betrachterin mit magnetischer Sogwirkung in dieses Schwindel erregende Trompe l’oeil hineinziehen. Eine Geisterbahn im minimalistischen Chic geometrischer Akkuratesse. Annett Zinsmeister verwandelt das allzu Alltägliche in eine neue, verrückte Welt und ich freue mich, dabei sein zu können, Fotos zu machen und darüber zu schreiben.

Die Künstlerin Karin Sander vor ihren Office Works
Karin Sander vor ihren “Office Works”

Im Sommer lerne ich die sehr coole Karin Sander kennen, die ihre 1700 minimalistischen Papierarbeiten in der Kunsthalle zeigt, Gemüse an die Wand nagelt und so in abstrakte Skulpturen verwandelt, Tischtennisbälle auf Hochglanz poliert und Leinwände jahrelang irgendwo herumliegen lässt, bis sich die Umgebung auf dem Malgrund eingeschrieben hat. Bei Sander ist die Arbeit nicht nur konzeptuelle Idee, sondern es ist auch immer eine sinnliche Objektivation. Ein materieller Bedeutungsträger. Karin Sander macht nicht nur sehr nachdenkliche, kluge und witzige Kunst, sondern sie kann auch wunderbar darüber reden. Wir verbringen halbe Tage mit ihr in der Kunsthalle und sie nimmt uns  mit auf eine sehr persönliche Reise durch ihre Arbeiten.

Ich konzipiere in Eningen unter Achalm Rundgänge zu HAP Grieshaber und Eduard Raach-Döttinger, den beiden Eninger Künstlern. Lerne eine Menge über Holzschnitte und Tierskulpturen, über Kunst am Bau und die raue Schönheit der Wacholderalb. Lese Grieshaber hinterher: Heinrich Böll, Walter Benjamin. Suche in den Gedichtbänden von seiner Frau Margarethe Hannsmann nach Texten, die sich zum Vorlesen eignen. Telefoniere mit der Enkeltochter von Eduard Raach-Döttinger. Suche in Zeitungsarchiven. Fotografiere. Schreibe. Dann  schlendere ich mit meinen Gästen durch den kleinen Ort am Fuß der Achalm, erzähle und lese vor, dazu gibt es ein bisschen Livemusik und zum Schluss der Veranstaltung einen kleinen Imbis im Garten einer Kunstfreundin oder Gemeinderätin oder beidem. Einfach perfekt. Genauso perfekt ein wunderschöner Nachmittag in einem bezaubernden Gärtchen, ich darf die Ausstellung “Biberfraßgelände” des Tübinger Künstlers Jürgen Klugmann eröffnen. Chinesische Landschaftsmalerei, Frottagen und eine ganze Menge köstlich unnützes Wissen über Biber.

FRau im Fenster einer Fabrikhalle
Anna Lagosch hängt ihre Ausstellung

In der Kunsthalle lerne ich die Esslinger Künsterin Anna Lagosch kennen. Sie nimmt an einer Abramovic-Führung teil, sie fragt viel, wir plaudern lange. Zwei Tage später ruft sie mich an und fragt mich, ob ich Texte für sie schreiben könnte. Für ihre erste Ausstellung, die Website, Bewerbungen. Natürlich will ich. Wir verbringen ein paar Stunden in einer alten Fabrik, in der die Arbeiten der Künstlerin hängen, die früher einmal Mathematik studiert hat und sich jetzt auf die Suche nach Zwischenräumen und emotionalen Linien in der konkreten Kunst begeben hat. In den nächsten Wochen schreibe ich Texte, in denen sie sich verstanden fühlt. Das macht mich wirklich glücklich.

Lesen, lernen, Kunst. Ich habe den schönsten Beruf der Welt.

 

Alles Theater: Zwischen Himmel und Hölle

Einen Tag bevor das Corona-Virus das komplette öffentliche Leben lahm legte, hatte ich einen großen Stapel Bücher aus der Universitätsbibliothek geholt. Während des ersten Lockdowns verbrachte ich viel Zeit damit, Bücher über Astronomie und Hexenprozesse, die Universität im 17. Jahrundert und den 30-jährigen Krieg zu lesen. Ich machte Bekanntschaft mit einer Menge etwa 400 Jahre alten Wissenschaftlern und verliebte mich besonders in Wilhelm Schickard.

Der war Theologe und Sprachwissenschaftler, Astronom und Mathematiker, Maler und Ingenieur. Ein richtiger Tausendsassa, hochgebildet und vierlseitig interessiert. 1624 hat er die erste funktionsfähige Rechenmaschine der Welt gebaut. 1635 ist er in Tübingen an der Pest gestorben. Er und seine Tochter Ursula, die Latein gelernt hatte und ihm als seine Assistentin zu Hand ging, wurden die Protagonisten meines neues Theaterstücks, das ich für das Ensemble “Generationentheater Zeitsprung” schreibe. Da geht es um einen Teufelspakt, den ein bis über beide Ohren verschuldeter Tübinger Student verfasst hat – das Schriftstück gehört zu den Kuriosa des Universitätsarchivs. Es geht um Aberglauben und Verschwörungserzählungen, um Fortschrittsoptimismus und das Vertrauen auf die Wissenschaft. Im Mai 2022 ist die Premiere.

Theaterplakat für
Im Dezember gab es einen kleinen Vorgeschmack auf die Premiere im Mai.

Auf das Abenteuer, ein Theaterstück zu schreiben, habe ich mich zum ersten Mal 2019 eingelassen und es hat mir unfassbar viel Spaß gebracht. Figuren entwerfen und ihnen sozusagen Fleisch auf die Knochen packen, eine Intrige spinnen und auflösen, Dialoge schreiben, in denen sich die Geschichte entwickelt – das ist eine enorme Herausforderung und ein sehr großes Vergnügen. Noch schöner ist es, gemeinsam mit Regie und Schauspieler*innen an Texten und Ideen zu feilen. Am allerschönsten ist es, zu erleben, wie die Schauspieler*innen die Sätze sagen, die ich geschrieben habe und meinen Figuren Leben geben.

Um an das Geld aus einem “Kunst-und-Corona”-Fördertopf zu kommen, mussten wir noch in diesem Jahr etwas zu dem Stück präsentieren. Es wurde eine kleine szenische Lesung in einem halböffentlichen Rahmen, eine Art Probelauf für die Vorstellungen im nächsten Sommer. Ich saß im Zuschauerraum, schaute meinen Figuren zu und merkte: das funktioniert. Die Leute lachen an den richtigen Stellen – und, was noch wichtiger ist, sie sind an den richtigen Stellen still.

Das war ein schöner Abschluss dieses so herausfordernden und aufregenden Jahres. Im Januar werde ich das Stück über Wilhelm, seine Tochter Ursula und den Studenten David fertig schreiben. Die Sterne Aldebaran, Schedir und Wega werden mir freundlich den Weg weisen – sie spielen eine wichtige Rolle in diesem frühneuzeitlichen Tübingen zwischen Himmel und Hölle.

Das war’s. Letztendlich war doch vieles  gut. Ich bin sehr dankbar für alles. Und freue mich auf nächstes Jahr.

5 Antworten

  1. Ich habe deinen Jahresrückblick mit Begeisterung gelesen! Wie hast du es so schön formuliert? Ich glaube, dass ich an den richtigen Stellen gelacht habe und an anderen war ich still. Ich finde es immer wieder schön, wenn ich denke – mit ihr möchte ich mich treffen, einen Kaffee trinken und über Gott und die Welt reden. Danke dafür! Ich wünsche dir alles Gute für das Jahr 2022! Liebe Grüße, Karen

    1. Vielen Dank! Das freut mich sehr! Und genau das möchte ich ja auch mit meiner Schreiberei erreichen – mit anderen Menschen über Gott und die Welt ins Gespräch kommen. Dir auch alles Gute!

  2. Liebe Andrea,
    ein schöner Rückblick, den ich gern gelesen habe. In Tübingen war ich noch nicht, sollte sich das ändern, buchen wir auf jeden Fall eine Führung bei dir.
    Ich wünsche dir einen guten Rutsch in ein wunderschönes neues Jahr und viel Erfolg mit deinem Theaterstück.
    Liebe Grüße
    Nicole

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