Lesen, Reden , Schreiben. Die Poetik-Dozentur in Tübingen

Audimax Tübingen. 2. Reihe links. Tübinger Poetik-Dozentur. In diesem Jahr ist der Hörsaal leerer als sonst, außerdem seltsam still. Hinter den Masken plaudert es sich schlecht. Selbst Small Talk ist mühsam geworden in diesen Zeiten.

Aber dann tritt Dorothee Kimmich ins Pult, Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Tübingen, wie immer sprühend vor Energie und Begeisterung, und alles ist wie immer. Sie organisiert die Poetik-Dozentur und man sieht ihr die Freude an, uns nach einem Jahr Pause wieder begrüßen zu können. Vier Tage lang werden zwei Autor*innen über das Schreiben reden, allein oder miteinander.

 

 

 

 

 

Notiz- und Lebensbücher: Eva Menasse und Thomas Hettche

Diesmal sind es Eva Menasse und Thomas Hettche. Eva Menasse, die seit vielen Jahren in Berlin lebt, aber hörbar aus Wien stammt, war schon mehrmals zu Gast in Tübingen, auf Lesungen und Bücherfesten. QUASIKRISTALLE und TIERE MIT BESONDEREN EIGENSCHAFTEN waren kluge, raffinierte Preziosen voll Tiefgang und sprachlicher Schönheit.

Heute bringt sie DUNKELBLUM mit, ihren neuesten Roman. Dunkelblum. Das klingt düster und unheimlich und schön.

Der Name eines österreichischen Dorfes.
Der Name von Freunden ihrer Eltern.
Eva Menasse sind Namen wichtig. Sie zeigt zwei Seiten aus ihrem Notizbuch, auf denen sie vor vielen Jahren Orts- und Familiennamen aufgelistet hat. Im Roman hat sie getauscht: Die Figuren bekamen die Namen der Orte, die Orte die Namen der Figuren.

Es ist nur eine der vielen formalen Entscheidungen, die Eva Menasse trifft, damit sie und ihre Leser*innen sich in der absoluten Freiheit des Romans zurecht finden. Das Experiment der Formlosigkeit gelingt, weil sich alles hält und definiert. Wie ein Haus mit Zimmern, Treppen, Fluren. Wie ein Mosaik. “Ich bin eine Fliesenlegerin”, erklärt Menasse und zeigt das Bild des 900 Jahre alten Fußbodens einer Moschee. Lauter symmetrische, aber fünfzackige Sterne. Ein Muster mit aperiodischer Ordnung nennt man so etwas. In den 70er-Jahren hat sich der Mathematiker Roger Penrose über dieses Phänomen nachgedacht, jetzt heißt es Penrose-Parkettierung. Es ziert auch das Cover von QUASIKRISTALLE, dem Roman von Eva Menasse, der in 13 Kapiteln das Leben einer Frau aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven erzählt.

Eva Menasse führt uns durch die Architektur ihrer und anderer Romane, erzählt von Lebensbüchern, von Popsong- und Sinfonieromanen und davon, dass sie einen Roman schreiben möchte, der sie selbst überrascht.
Sie erzählt, wie sie monatelang für DUNKELBLUM recherchiert hat und wie es ihr gelungen ist, sich von den recherchierten Fakten zu lösen und den Schritt in die Freiheit der Fiktionalisierung zu schaffen.
Sie erzählt eine Menge von dem , was mein eigenes Schreiben ausmacht, schwierig macht, behindert. Sie erklärt mir, woran es liegt, dass ich noch keinen Roman geschrieben habe.

Ich glaube auch nicht, dass ich das jemals tun werde. Ich lese lieber die Romane der anderen.

Zum Beispiel HERZFADEN von Thomas Hettche, einen Roman über die Augsburger Puppenkiste, ihre erste Spielerin und Puppenschnitzerin Hannelore Marschall und das, was der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit aus einer Familie, einer Stadt, einer Gesellschaft gemacht haben. Keine Geschichte über niedliche Marionetten, sondern eine komplizierte Balance zwischen Grazie und Monstrosität, in der Realität und Imaginäres mit dem Herzfaden vernäht werden.

Thomas Hettche nimmt uns mit auf einen atemlosen Ritt durch die großen Geschichtenerzählungen der Weltliteratur. ODYSSEE, 1001 NACHT, die Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen und eines seiner frühesten und eindrücklichsten Kinoerlebnisse: LE MÉPRIS von Jean-Luc Godard.
“Liebst du meine Füße?”
“Natürlich liebe ich deine Füße.”
Hettche durchstreift literarische Räume, in denen sich die Zeit faltet, in denen Logik überflüssig ist, in denen es darum geht, was es bedeutet, Männer und Frauen zu sein und um Leben und Tod. Jedes Lesen ist Sirenengesang, sagt er. Und der Raum des Erzählens stehe allen offen.

Die anschließende Signierstunde gehört zum Ritual jeder Poetik-Dozentur. Ich liebe meine signierten Bücher noch mehr als alle anderen. Die Unterschrift macht das Buch persönlich und einzigartig und verbindet es noch ein bisschen mehr mit mir.

Spaziergänge mit Arne Dahl und Uwe Timm

Arne Dahl hat mir in SIEBEN MINUS EINS geschrieben: “Für Andrea, von der ich alles weiß von Tübingen.” Mit ihm bin ich einen langen Vormittag durch die Stadt gelaufen und habe ihm all meine Lieblingsorte gezeigt. Er wollte viel wissen, fragte präzise nach Tübinger Phänomenen und Kompliziertheiten und ließ sich nur wenig einwickeln in den Charme des romantischen Universitätsidylls. Ein schweigsamer, gelassener Schwede, der mir gemeinsam mit Hakan Nesser so viel über Kriminalromane beigebracht hat, dass ich für immer frei von dem schlechten Gewissen bin, das ich hatte, wenn ich meine Zeit mit der Lektüre von Bahnhofskioskliteratur zu verplempern meinte.

Mit Uwe Timm waren wir extra im Depot des Universitätsmuseums, um uns eine neuseeländische Skulptur zeigen zu lassen. Anschließend haben wir in einem kleinen Restaurant in der Unterstadt zu Mittag gegessen. Statt Linsen und Spätzle gab es tatsächlich Austern. Wir hatten so viel Spaß am Tisch, dass diese Austern zu unserem Running Gag während der gesamten Dozentur wurden. Ein wenig Alltagsanarchie, wir kamen uns wunderbar dekadent vor.
Uwe Timm redete über Utopien und begeisterte sich für die Graffitti-Kultur in Berlin. Radikal und kreativ sei das. Vor allem die Tags hatten es ihm angetan, weil die nur noch Buchstaben brauchten, um Emotionen zu transportieren.

Schockverliebt: Siri Hustvedt

Die erste Autorin, die ich als Gästeführerin begleitet habe, war Siri Hustvedt. Ich wurde ihr auf dem Empfang nach ihrem ersten Vortrag vorgestellt und war sofort bis über beide Ohren verliebt in diese kluge, schöne, nervöse Frau, die solche Dinge sagt wie: “Man hat täglich problemlos Zeit, um drei Stunden zu lesen, wenn man sich die Zeit dafür nimmt.” Mit ihr ging ich in den Hölderlinturm, ins Evangelische Stift und nach Bebenhausen, immer auf den Spuren von Joseph Schelling, über den sie gerade arbeitete. Es war schwierig und anstrengend, weil mein Englisch selbst für eine Unterhaltung weit unter dem Niveau von Siri Hustvedt zu schlecht ist. Aber es war trotzdem wunderbar, die Frau, die mit WAS ICH LIEBTE eines meiner Lebensbücher geschrieben hat, so persönlich kennen lernen zu dürfen.

Sie redet über Erinnerung und Kreativität. Erzählen als mentale Zeitreise, bei der zwei Zeitebenen auf einmal besetzt werden: Jetzt und Dann. Now and Then. Ohne Erinnerung keine Imagination, die bewusste Erinnerung ist kreativ. Wir sind Geschichten, ein narratives Selbst, und all unsere Gefühle verdienen es, zumindest mit Würde behandelt zu werden. Das Schreiben sei dann ein wahrnehmbarer Übergang von innen nach außen. Lesen und Schreiben verändern den Geist.

Ich sitze im Hörsaal, mache mir seitenlange Notizen und himmel sie an.

Weite Horizonte und neue Perspektiven

Beim Schreiben geht es um das, was noch sein wird und das Vergangene entsteht neben dem Gegenwärtigen, sagt Karl Ove Knausgard, der leider keine Zeit zum Spazieren gehen hat, weil er mit seiner sehr jungen Frau und seiner Tochter ins Spielwarengeschäft muss. Aber ohne Poetik-Dozentur hätte ich niemals auch nur ein Buch von ihm gelesen und dann fand ich STERBEN so toll, dass ich am liebsten weiter gemacht und alle anderen auch gelesen hätte. Nur die Vorstellung, monatelang ausschließlich mit diesem Mann mein Leben als Leserin verbringen zu müssen, hat mich davon abgehalten. Aber vielleicht habe ich irgendwann einmal so viel Zeit, dass ich mich darauf einlasse.
Auch von ihm lerne ich etwas für mein eigenes Schreiben: “In all meinen Romanen habe ich mich dem Augenblick zugewandt, weil sich dort die Welt für uns öffnet.”

Es gab  noch viele andere. Priya Basil, Chika Unigwe, Tayie Selasi zum Beispiel, die mit DIE LOGIK DES HERZENS, SCHWARZE SCHWESTERN und DIESE DINGE GESCHEHEN NICHT EINFACH SO Horizonte eröffnen, wie nur kluge Bücher sie eröffnen können. Die so ungeheuer kosmopolitisch sind, dass sie mich aus den Begrenzungen europäischer Literaturen heraus holen. Deren Neugier, Reflektiertheit und Kreativität ansteckend sind.

In Zeiten, in denen das noch möglich war, saßen wir dicht gedrängt an langen Restauranttischen, aßen und tranken und lachten und setzten die im Hörsaal begonnen Diskussionen fort. Standen um Stehtische herum, trafen Kolleginnen, ehemalige Kommilitoninnen oder die Deutschlehrer unserer Kinder und erzählten uns, was wir gerade lasen. Dorothee Kimmich lud uns zu Kürbissuppe und Tapas ein und wir bekamen immer viel zu wenig Schlaf. In diesem Jahr war es anders. Mehr Hörsaal, weniger Party. So wie überall. Wir lächelten tapfer, setzten unsere Masken wieder auf, gingen nach Hause und übten uns in Geduld.

Bücher werden niemals sterben

Anstatt mich einzuschüchtern, feuern mich die Gäste der Poetik-Dozentur regelrecht an. Sie reden von ihrem Glück und ihrer Not, sie lassen mich in ihre Werkstatt hineinschauen und teilen mit uns ihre Sicht auf die Welt. Sie reden über ihre eigenen Lebensbücher und Sehnsuchtsorte, über ihre Beziehungen zu denen, die ihre Bücher lesen werden und zu denen, die andere Bücher schreiben. Sie machen mir große Lust auf noch mehr Lesen – und auch auf das Schreiben.

“Bücher werden niemals sterben”, sagt Hakan Nesser. “Wir haben alle ein Grundbedürfnis nach Geschichten.”

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