Traumberuf Stadtverführerin

Im Zeitalter der Aufklärung nannte man sie Dilettanten, heute spricht man von Scanner-Persönlichkeiten: Menschen, die sich für tausendundein Thema interessieren, sich aber auf nichts so wirklich tief einlassen. Die für alles zu haben und für nichts zu gebrauchen sind.
In einer Welt, in der immer spezielleres Expertenwissen das Maß aller Dinge ist, in der man sich bereits in der Schule festlegen muss, um immer passgenauer ausgebildete Fachkräfte zu bekommen, sind Dilettanten nicht gefragt. Oberflächlich, ohne Ausdauer, undiszipliniert. Machen alles, aber nichts richtig.

Aber es gibt sie, die Nische für die, die schon als Kinder am liebsten in Lexika geblättert und die Sendung mit der Maus geschaut haben, weil es da immer irgendwie um alles ging. Die sich nicht für ein Lieblingsfach entscheiden konnten und alle zwei Monate ein neues Hobby angefangen haben.
Ich habe sie gefunden, diese Nische.
Vor über zwanzig Jahren. Auf der Suche nach einem Job, der mich zunächst nur für ein paar Stunden aus meinem begrenzten Universum der Vollzeitmama und Teilzeitdoktorandin befreien sollte. Eigentlich sollte es nur eine Übergangslösung sein. Es wurde mein Traumberuf. Das, was ich am liebsten mache und am besten kann.

Ich bin mit Leib und Seele Gästeführerin.

Ich erzähle Geschichten zur Geschichte, erkläre Kunst, rede über Menschen die vor uns da waren und der Welt etwas gegeben haben, mache meine Gäste aufmerksam auf Interessantes, Schönes, Kurioses, bringe sie zum Nachdenken, Träumen, Staunen und Lachen. Manchmal ist es richtig magisch. Dann spüre ich, wie ich sie anstecke mit meiner Begeisterung. Ich sehe die Aufmerksamkeit in ihren Gesichtern, ihr Lächeln, ihre Neugier. Ich lebe für diese Momente.

Mein Arbeitsplatz ist Tübingen. Komplett alles. Stadt, Museen, Kirchen, Kloster und noch ziemlich viel drumherum.

Zu den klassischen Altstadtrundgängen, mit denen ich angefangen habe, kamen nach und nach immer mehr und immer ausgefallenere Themenführungen. Ein Hospizverein hat tatsächlich einmal einen Rundgang zur „Sterbekultur“ in Auftrag gegeben. Der hieß dann „Mitten im Leben“ und war höchst lebendig. Schön sind auch so Sachen wie Schlenderweinproben und Wandelkonzerte. Oder Stocherkahnfahrten, auf denen ich Gedichte vorlese. Und Kunst und Kirche. Mein Portfolio ist dick und bunt und vielfältig. Es gibt fast nichts, zu dem ich nichts erzählen könnte. Und wenn ich es noch nicht kann – dann habe ich einen Grund, es zu lernen.

Denn auch das liebe ich: die Führungen vorbereiten! Jede neue Ausstellung in der Kunsthalle oder im Museum ist eine echte Wundertüte. Ich stoße die Tür auf zu neuen Welten, begegne inspirierenden Menschen, lerne ungeheuer viel Neues. Eine Ausstellung über populäre Malerei im Kongo bringt mich ins versunkene Königreich der Mangbetu und zu einem abenteuerlichen Raketenprogramm. An frühmittelalterlichen Grabbeigaben lerne ich, wie man Wadenbindengarnituren anlegt und Schwertscheiden mit Ziegenhaar füttert, damit die Klinge nicht herausrutschen kann.

Ich habe eine Schwäche für unnützes Wissen

Ich verkrieche mich tagelang in Bibliotheken und Archiven, surfe quer durch die weltweite Internetgalaxie, sammle Material, lese, sichte, ordne, bis ich ein Konzept habe, das mir gefällt – und meinen Gästen auch.
Nicht Expertenwissen ist gefragt, sondern enzyklopädisches Denken. Ich muss mich nicht entscheiden. Morgens Stadtentwicklung, nachmittags Minimal Art, abends Poesie auf dem Stocherkahn. Von allem etwas. Kunst. Literatur. Politik. Geschichte. Theologie. Philosophie. Wirtschaft. Architektur. Botanik. Archäologie. Geographie. Musik. Alltagsphänomene. Einmal alles.

Dabei treffe ich die unterschiedlichsten Menschen. Von der Schulklasse aus einem Vorort von Paris bis zu chinesischen Hölderlin-Übersetzerinnen, vom 40-stimmigen Gesangsverein bis zum Silberhochzeitspärchen. Ich habe Menschen kennen gelernt, denen ich sonst kaum begegnet wäre. Mit Siri Hustvedt war ich auf den Spuren Schellings im Evangelischen Stift, mit Uwe Timm habe ich Maori-Schnitzereien im Museum der Universität bewundert und mit Volker Schlöndorff bin ich einfach nur im Regen spazieren gegangen. In zwei Jahrzehnten habe ich, grob geschätzt, etwa 75.000 Gäste betreut. Alle, ausnahmslos, haben sich in Tübingen verliebt. So soll es sein.

Ein beträchtlicher Teil meiner Gäste kommt aus einem französischsprachigen Land und ich spreche mit ihnen Französisch. Diese Fähigkeit hat mir sogar zu meinem Job verholfen: der Bürger- und Verkehrsverein Tübingen suchte eine Gästeführerin mit französischen Sprachkenntnissen. Auch das trägt zu meiner Leidenschaft für meinen Job bei. Frankreich ist meine zweite Heimat, mein Sehnsuchtsort. Ich habe einige Zeit in Paris gelebt und gearbeitet, ich habe immer wieder Ferien im Süden Frankreichs verbracht. Der Vater meines ältesten Sohnes war Franzose. Meine französischen Gäste sind meine Medizin gegen die Frankreichsehnsucht.

Von Gestern für Heute und Morgen

Ich rede darüber, was Menschen vor uns getan, gedacht, geschrieben haben, was ihnen Angst oder Freude machte, was sie liebten oder verabscheuten. In Tübingen erzählt jedes Haus, jeder Winkel, jeder Stein eine Geschichte. Und all diese Geschichten machen unsere Welt zu dem, was sie ist. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schreibt in seinem Tagebuch:

„Wir leben auf einem laufenden Band und es gibt keine Hoffnung, dass wir uns selber nachholen und einen Augenblick unseres Lebens verbessern könnten. Wir sind das Damals, auch wenn wir es verwerfen, nicht minder als das Heute. Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.“

Ich bin fest davon überzeugt, dass das auch für alle Menschen gemeinsam gilt. Wir unterscheiden uns nur sehr, sehr unwesentlich von denen, die vor uns da waren und wir können das, was wir Geschichte nennen, zwar immer wieder anders betrachten – nachholen oder gar verbessern können wir es jedoch nicht. Aber je mehr wir uns mit dem Gestern beschäftigen, desto klarer wird uns vielleicht, was wir vom Heute wollen. Oder vom Morgen.

Und dann war da noch dieser Geheimrat Goethe aus Weimar, der auch zehn Tage in Tübingen verbracht hat, mehr oder weniger unfreiwillig und hauptsächlich wegen des widrigen Wetters, aber das ist auch schon wieder eine andere Geschichte. Der wusste:

„Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“

Das ist der zweite Teil meiner Mission. Ich liebe es, die Augen und die Ohren meiner Gäste zu öffnen. Für alles, was irgendwie schön, anrührend, komisch, aufregend oder sonst irgendwie bedenkens- und bemerkenswert ist. Die Welt ist groß und wunderbar, aber es braucht hin und wieder jemanden, der einem für die Erkenntnis all dieser Wunder eine Bedienungsanleitung liefert.

Und wegen all dessen liebe ich diesen Beruf. Nach einem Jahr Generalpause freue ich mich wie ein Kind darauf, endlich wieder losziehen und meine Gäste begrüßen zu können.
Ich bin Madame Tübingen. Die Stadtverführerin.

 

Andrea Bachmann | Erich Sommer: Tübingen – deutsch, englisch, französisch
Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen, 2019

Andrea Bachmann: Tübingen – 100 Gründe, stolz auf diese Stadt zu sein
Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen, 2016

Andrea Bachmann: Tübingen – Der Stadtführer
Oertel und Spörer, Reutlingen, 2014

 

 

 

3 Antworten

  1. Es freut auch mich, dass du mit soviel Begeisterung diesen wirklich interessanten und spannenden Beruf ausüben kannst und damit auch deine Gäste ansteckst. Hin und wieder seh ich dich ja in der Stadt im Einsatz und dieses Engagement und die Freude sind tatsächlich zu spüren.
    Es gibt ja so viele langweilige, desinteressiert und schlecht vorbereitete “Führer”.
    Ad multos annos!

  2. Auch diesen Sonntag hab ich gesehen, wie lebendig Du erzählt und Deine Gäste sehr aufmerksam und mit gespitzten Ohren zuhören – und das bei schrecklich nasskaltem Wetter.

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