Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Veilchen gesehen. Fast wie ein Teppich bedecken sie den Waldboden. Buschwindröschen und Schlüsselblumen leisten ihnen Gesellschaft. Es ist zauberhaft. Der Frühling zeigt sich von seiner allerbesten Seite.
Die Traufgänge auf der Schwäbischen Alb bieten im Frühjahr ein perfektes Wandervergnügen: Man bekommt viel Licht und Sonne ab, genießt atemberaubende Aussichten und erlebt gleichzeitig den Wald im Frühling. Zum Beispiel auf der Tour zur Hossinger Leiter.
Die Hossinger Leiter – eine Treppe im Fels
Wir fahren von Lautlingen mit dem Fahrrad zum Brunnental und sparen uns so zwei Kilometer Fußmarsch durch ein langweiliges Industrie- und Gewerbegebiet. Dann geht es durch sonnige Wiesen in den lichten Frühlingswald und ziemlich steil bergauf. Zu Ostern hat man hier einen kleinen Kreuzweg gestaltet. Alle paar Meter gibt es eine kleine Station am Wegrand. Eine rührende Mischung aus Naturmaterialien und Plastikdeko, christlicher Symbolik und Häschenkitsch.
Die Hossinger Leiter ist eine Eisentreppe direkt an der Felswand. Die Stufen sind steil und offen, ich darf nicht allzu lange nach unten schauen. Aber es gibt ein Geländer gegen meine Angst und der Ausblick in das wildromantische Tal ist großartig. Die eisernen Treppen wurden 1899 erbaut, vorher standen dort nur zwei einfache Holzleitern. Diese Leitern waren für die Menschen aus dem Albdörfchen Hossingen der einzige Weg hinunter nach Lautlingen, wo es eine Eisenbahn und Arbeitsplätze gab.
Oben angekommen, dösen wir auf einer hölzernen Liege in der Sonne und blicken über eine große, grüne Wiese nach Hossingen. Wir stellen uns vor, wie das Leben der Dorfbewohner vor 120 Jahren ausgesehen hat: Morgens um halb sechs aufstehen und den anderthalbstündigen Fußmarsch nach Lautlingen hinunter unter die Füße nehmen, zu dem auch die Kletterpartie auf der Holzleiter gehörte. In Lautlingen zehn Stunden Arbeit in einer der Textil- oder Trikotwarenunternehmen. Anschließend wanderte man wieder nach Hause, um dort noch Haushalt und Vieh zu versorgen. Romantisch war das nicht. Aber Märchenwald und Wiesenidylle waren auch damals so schön wie heute.
Der Gräbelesberg – kleine Höhle und große Aussicht
Es geht weiter. Immer am Albtrauf entlang, das Panorama ist überwältigend. Kiefern und knorrige Bäume hängen über der Felskante und neben den Buschwindröschen und den vielen Veilchen wachsen Nieswurz und Küchenschellen. Am Gräbelesberg, einem Bergsporn über dem Eyachtal, klettern wir in eine kleine Höhle. Die ist nicht wirklich spektakulär, aber es macht Spaß, sich vorzustellen, dass hier vermutlich mal Menschen ein Zuhause hatten. Zwischendurch klingelt mein Handy. Ich habe tatsächlich Empfang. Das ist fast ein bisschen unheimlich.
Wirtshaus Krone – Freundlichkeit und feines Essen im Kulturdenkmal
Nach etwa vier abwechslungsreichen Stunden sind wir wieder in Lautlingen. Dort haben wir uns in der KRONE einlogiert. Wir hatten relativ spontan gebucht und einfach das genommen, was problemlos und schnell mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Fahrrad erreichbar war. Jetzt sind wir sehr angenehm überrascht. Uns erwartet ein stattliches, liebevoll restauriertes Fachwerkhaus aus dem späten 17. Jahrhundert mit einem modernen Anbau in Vollholzbauweise. Wunderschöne Zimmer mit Betten aus Zirbenholz und großem Tageslichtbad, ein Frühstücksraum wie aus der “Landlust”, viel Platz, Licht und Ruhe, obwohl das Hotel direkt an der Bundesstraße liegt. Das frisch sanierte und quicklebendige Kulturdenkmal rocken Mutter und Tochter: Monika und Helena Bodmer sind so herzlich, hilfsbereit und aufmerksam, dass ihnen sicherlich gelingen wird, was sie sich mit diesem großen Projekt vorgenommen haben: Aus der KRONE in Lautlingen wieder einen Ort zu machen, an dem man sich begegnet. Zum Einkaufen im Hofladen, auf einen Kaffee oder zu einem feinen Abendessen. Auf ein Viertele nach der Singstunde oder dem Elternabend. Zu Feiern und Tagungen oder eben zu zwei Tagen Wanderurlaub. In den Zimmern hängen sogar Tagesrucksäcke zum Ausleihen.
Zum Abendessen gibt es Lamm. Das Medaillon mit einer bärlauchigen Kräuterkruste und das zarte Ragout schmecken himmlisch. Dazu frischen Salat und knackiges Gemüse, beste schwäbische Küche aus regionalen Zutaten ohne Chichi, aber sonntäglich fein aufgetischt. Das Dessert, ein Trio hausgemachter Sorbets, macht richtig glücklich.
Auch das Frühstück am nächsten Morgen wird liebevoll serviert. Die Chefin bringt den leckersten Frischkornbrei, den ich je gegessen habe, dazu eine kleine Auswahl Käse, Honig, Konfitüre, Obst und Rohkost. Kleine Sonderwünsche werden mit einem strahlenden Lächeln entgegengenommen: “Das kriegen wir hin!”
Der Felsmeersteig – die Königstour unter den Traufgängen
Für den zweiten Wandertag haben wir uns den Felsmeersteig vorgenommen. Der sei die Königstour unter den Traufgängen der Schwäbischen Alb, verspricht der Wanderführer und tatsächlich: jeder Meter ist schön. Wir stapfen über einen mit blühenden Bäumen gesäumten Wiesenweg zum Waldrand und sind bald am spektakulärsten Abschnitt der Tour angelangt: Eine riesige Felslandschaft mitten im Wald. Wasser, Kälte und Hitze habe hier in Jahrmillionen das Juragestein zu bizarren Steinskulpturen geformt, zwischen denen ein etwa 300 Meter langer Pfad hindurch führt. Am Einstieg schlägt meine Deichkind-Panik wieder zu: “Das schaffe ich nie!” Aber letztendlich ist es gar nicht so schwierig wie befürchtet und macht richtig Spaß.
Wer nicht die gesamte Tour gehen will, der findet von Lautlingen oder Laufen aus eine ganze Reihe Einstiege in das Felsenmeer und kann dort stundenlang in diesem Riesenspielzeugpark herumkraxeln. Wir laufen weiter, zunächst über bequeme Forstwirtschaftswege und dann immer am steilen Traufhang entlang zur Ruine Schalksburg. Vom Aussichtsturm aus hat man einen weiten Blick. Unzählige Wanderer haben sich in den metallenen Dachschindeln verewigt, die Einträge reichen bis in die 60er-Jahre zurück.
Sagenhaft: Die Ruine Schalksburg
Die Schalksburg war im 13. Jahrhundert eine der größte Burganlagen der Schwäbischen Alb, sie wurde um 1100 erbaut, gehörte zunächst den Grafen von Veringen und kam Mitte des 13. Jahrhunderts an die Grafen von Zollern. 1403 verkaufte Graf Friedrich I. von Zollern die Burg, die Stadt Balingen und 17 weitere Ortschaften an die Grafen von Württemberg. Der Deal brachte ihm 28.000 Gulden ein. Aber ein einfacher Immobilienverkauf wäre ja langweilig. Deshalb erzählte man sich bald die Geschichte vom Hirschgulden:
Auf den drei Burgen Hirschberg, Schalksberg und Zollern lebten drei Brüder. Hirschberg war die schönste Burg und der dort lebende Bruder der reichste, dem unter anderem die Stadt Balingen geörte. Eines Tages erkrankte dieser Bruder schwer und es hieß bereits, er sei gestorben. Die Anteilnahme seiner beiden Brüder hiel sich in engen Grenzen – voller Vorfreude auf das zu erwartende Erbe ließen sie sogar Böllerschüsse abfeuern. Der kranke Bruder hörte das Freudenfeuer und sann auf Rache. Nach seiner Genesung verkaufte er Burg und Stadt für einen einzigen Hirschgulden an Württemberg – natürlich unter der Bedingung, dort lebenslang wohnen bleiben zu können. Er lebte noch lange Zeit und erfreute sich an der ausgesuchten Freundlichkeit seiner Brüder, die natürlich alles taten, um sich den reichen Bruder gewogen zu stimmen. Als er schließlich starb, kamen die beiden auf die Burg, um endlich ihr Erbe einzunehmen. Aber schon vor dem Eingangsportal begrüßte sie ein Abgesandter des Hauses Württemberg, zeigte ihnen den Vertrag und übergab ihnen den Hirschgulden. Voller Wut machten die beiden kehrt und spülten die Enttäuschung im nächsten Wirtshaus herunter. Als sie ihre Zeche mit dem Hirschgulden bezahlen wollten, teilte der Wirt ihnen mit, dass der gar nichts mehr wert sei. So hatten sie statt des Erbes am Ende auch noch einen Gulden Schulden.
Wilhelm Hauff hat diese Sage im WIRTSHAUS IM SPESSART erzählt, wer mag, kann sie dort in voller Länge lesen oder sie sich, am besten natürlich am Originalschauplatz, vorlesen lassen.
Gigantische Baumriesen: Mammutbäume
Von der Schalksburg führt ein schmaler, steiler Pfad bergabwärts zu einer Gruppe imposanter Mammutbäume. Vermutlich stehen nirgendwo sonst auf der Welt so viele Mammutbäume auf so einer kleinen Fläche wie in Württemberg: 1864 bestellte die königliche Bau- und Gartendirektion auf Anordnung von König Wilhelm I. Samen des Sequoiadendron giganteum aus Nordamerika. Wilhelm wollte einige dieser beeindruckenden Baumriesen für seine Wilhelma. Da man davon ausging, dass ein so großer Baum auch große Samen hat, bestellte man gleich ein Pfund davon – und erhielt rund 100.000 Stück, denn die Mammutbaumsamen sind tatsächlich winzig klein. Weil der Schwabe nur schwer etwas wegwerfen kann, was noch gut ist und Geld gekostet hat, brachte man alle 100.000 Samen im Kalthaus der Wilhelma zur Aussaat und beglückte anschließend sämtliche Förster Württembergs mit den Setzlingen. Die mussten das Geschenk des Königs natürlich gebührend würdigen und bis 1870 wurden unzählige Wellingtonien an ihre endgültigen Standorte verpflanzt. 1987 wurden in Württemberg noch 106 dieser Mammutbäume aus der Wilhelmaaussaat gezählt, drei davon stehen unterhalb der Schalksburg.
Wer gerne mal einen Baum umarmt, kommt bei Mammutbäumen voll auf seine Kosten. Die rotbraune Rinde ist bis zu 50 Zentimeter dick, ganz weich und von einem regelrechten Fell überzogen.
Märchenhaftes Wannental
Auf dem Weg zum Böllat, dem auf 920 m Höhe schönsten Aussichtspunkt der Tour, kommt man durch das Wannental. Ein einzelner Bauernhof inmitten sanfter Wiesen mitten im Wald verbreitet echte Märchenstimmung, bevor der nächste Anstieg nach Burgfelden kommt. Auf dem Weg wächst der Bärlauch so üppig, dass ich ein bisschen bedauere, keine Sammelbehälter dabei zu haben. Vorrat für eine Großproduktion Pesto wäre hier in einer Viertelstunde gepflückt – und es bliebe immer noch genug übrig. Nach einem weiteren weiten Blick über das Land – das Wetter ist so schön, dass man bis zum Schwarzwald sehen kann – stärken wir uns in der hübschen Gartenwirtschaft des BERGCAFÉS in Burgfeldenmit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen.
Einzigartige Wacholderheiden
Zum echten Albglück fehlt mir noch meine Lieblingslandschaft, aber auch die ist auf dieser Wanderung vorgesehen: Bevor es wieder steil nach Lautlingen herunter geht, darf ich noch über eine Wacholderheide gehen. Die Weite, der Duft, die einzelnen, von Wind und Wetter geformten Bäume – Wacholderheiden sind magische Orte. Sie gehören zu den ältesten Kulturlandschaften der Menschheit und zu den artenreichsten Ökosystemen Europas. Leider gibt es immer weniger Schäfer, die mit ihren Herden über die Albflächen ziehen, sodass sich der Wald diese einzigartige Landschaft Stück für Stück wieder zurück holt. Aber noch sind sie da und ich liebe sie.
Wir haben die Tour etwas abgekürzt und auf den Schlenker zur Kneippanlage östlich des Heersbergs bei Margrethausen verzichtet. Trotzdem waren wir richtig lange unterwegs und sind einige hundert Höhenmeter hinauf- und hinuntergewandert. Zwei schöne Tage mit fantastischen Aussichten, märchenhaften Waldpfaden, einem kleinen Kletterabenteuer und – Veilchen! Ich habe sehr viel Sonne im Gesicht und im Herzen. Komm, lieber Mai…
2 Antworten
Wie immer: sehr anschaulich, Lust machend – ich bedaure sehr, dass wir diese
zu jeder Jahreszeit wunderschönen Albtouren nicht mehr machen können – lebendig und fast so, als wäre man dabei.
Dankeschön!