Vertrauen und Veränderung. Jahresrückblick 2022.

Jahr Eins nach der Pandemie. Nach zwei Jahren Generalpause, die mich sehr erschöpft und sehr dünnhäutig gemacht haben, hatte ich vor allem erwartet, mein Leben würde sich einfach wieder stabilisieren. Ich freute mich auf viele Stadtführungen, darauf, wieder unter Menschen zu kommen, auf Kunst, Kultur und Musik. Das habe ich auch alles bekommen. Gleichzeitig hat die Pandemie viel in Frage gestellt. Die Lockdowns haben mich an den Rand meiner Geduld und auch den meiner finanziellen Existenz gebracht. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so ausgebremst gefühlt. Deshalb wollte ich in diesem Jahr Dinge einspuren, die mich unabhängiger von meiner Arbeit als GÄSTEFÜHRERIN machen. Ich wollte mich mehr bewegen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Mehr reisen, mehr schreiben, mehr erleben, mehr lernen. Das lief fast besser als ich ich es mir gewünscht habe und es war nicht immer einfach. Ich habe lernen müssen, Pläne zu ändern, Vorhaben aufzugeben, Menschen und Dinge loszulassen. Dafür sind neue Menschen und neue Aufgaben in mein Leben gekommen.
Das war ein gutes Jahr. Voller Veränderungen, die mich weiter gebracht haben. Voll schöner Begegnungen und intensiver Momente. Und voller Vertrauen darauf, dass alles so gut ist, wie es ist.

Heimatgefühle

Ich bin Flensburgerin. Geboren und aufgewachsen in der nördlichsten Stadt Deutschlands, zwischen Nordsee und Ostsee, direkt an der dänischen Grenze. Nach dem Abitur habe ich das alles mit leichtem Herzen und leichtem Gepäck verlassen. Flensburg wurde zu einem Ort, an dem man die Sommerferien verbrachte. Das war schön, aber länger als zwei Wochen dort zu sein konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen.

In diesem Jahr war ich jeden Monat für ein paar Tage dort.

Es ist lange her, dass ich im Winter an der Förde war. Ich laufe am Strand von Norgaardholz und sehe hinüber nach Dänemark. Ich gehe in das KINO, in dem ich vor über 40 Jahren zum letzten Mal einen Film angeschaut habe. Ich besuche ein Konzert in der KIRCHE, in der ich als Schülerin gesungen habe. Ich verliebe mich neu in diese Stadt und dieses Land, das mir so vertraut ist. Jedesmal, wenn ich die Nordstraße hinunterfahre und über den Hafen auf die westliche Seite der Förde blicke, geht mir das Herz auf.

Blick auf Flensburg
Flensburg. Die Schiffbrücke und das Alte Gymnasium. Da bin ich zur Schule gegangen.

Manchmal denke ich darüber nach, wie es sein könnte, wieder länger hier zu sein. Im Sommer habe ich mit leisem Neid den Stand-Up-Paddlerinnen in Wassersleben zugesehen. Ich war jeden Tag schwimmen und kann nicht genug bekommen von der Ostsee und dem weiten Blick um mich herum. Ich bummel durch die Kaufmannshöfe und verbringe lange Nachmittage im Café vom MUSEUMSHAFEN. Ich schreibe einen Text über den Fotografen WILHELM DREESEN, von dem ich eine sensationell gute Ausstellung auf dem Museumsberg gesehen habe und denke darüber nach, dort als Kunstvermittlerin anzuheuern.

Eine verfallene Brücke am Strand
Geheimtipp: kleine, wilde Strände an der Flensburger Förde

An jedem letzten Abend meiner Flensburg-Trips stehe ich am Gräverdiek an der Geltinger Bucht und schaue über das Wasser. Der Leuchtturm blinkt. Ich will gar nicht mehr weg. Es ist wunderschön unter diesen großen Himmeln, mit dem Wind im Gesicht und den Straßen meiner Kindheit unter den Füßen.

Flensburger Förde im Sommer
Die Ochseninseln in der Flensburger Förde waren für meine Kinder ein Feriensehnsuchtsort. Meine Tochter wollte dort sogar heiraten.

Was für ein schönes Gefühl, nach so langer Zeit heimkommen zu dürfen! Vielleicht ist es auch die Lust auf ein neues Leben, ohne das alte komplett aufgeben zu müssen. Der Wunsch, nach den zwei so herausforndernden Coronajahren an der Küste ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Jedenfalls denke ich mehr und mehr darüber nach, ob es möglich ist, das Beste aus beiden Welten miteinander zu kombinieren. Ostsee und Alb, Schiffbrücke und Stiftskirche, Dorfleben und Universitätsstadt. Ich werde es ausprobieren. Einmal alle vier Jahreszeiten durch. Ich werde mir ein Stand-Up-Paddel besorgen und überlegen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Im nächsten Jahresrückblick wird dann stehen, was aus diesen Überlegungen geworden ist.

Stadt, Land, Berg. Reisen dürfen.

Ich bin gerne unterwegs. Tapetenwechsel finde ich wunderbar. Die zwei Corona-Jahre und die erzwungene Häuslichkeit waren dementsprechend anstrengend. Ich liebe es, Abstand von daheim zu haben, neue Orte kennen zu lernen und mich auf sie einzulassen. Mit dem Fotoapparat und mit Block und Stift. Ich weiß nicht, wie viele Reisebloggerinnen es gibt, vermutlich Abertausende. Trotzdem wäre ich gern eine davon.

Der Plan war: mindestens eine größere Reise machen und einmal irgendwo sein wo ich noch nie war. Das hat fast geklappt.

Das Jahr begann mit einem AUSFLUG INS WINTERWUNDERLAND, wie man es sich schöner nicht erträumen kann. AU IM BREGENZERWALD ist einer der wohltuendsten Orte der Welt und zeigte sich in dieser Ferienwoche von seiner allerbesten Seite: Neuschnee, blauer Himmel und perfekt gespurte Loipen. Vormittags ging ich Langlaufen, nachmittags wandern. Zwischendurch schrieb ich an meinem Theaterstück und las nach etwa vierzig Jahren noch einmal “DER NAME DER ROSE”.

Blick auf Au und die Üntschenspitze
Au. Ein Wintermärchen im Bregenzerwald. Auch im Nebel.

Das mit dem schönen Wetter hat in Hildesheim leider nicht geklappt. Dort studiert meine kleine Tochter. Ich hätte nichts lieber getan, als stundenlang durch die mir fremden Straßen zu streifen und unzählige Fotos zu machen. Aber daraus wurde nicht wirklich etwas. Es regnete ohne Unterlass. Wir stapften über das menschenleere Gelände des KULTURCAMPUS an der DOMÄNE MARIENBURG, das an guten Tagen vermutlich den Charme von Hogwarts hat. Danach probierten wir einen Spaziergang und besuchten ein wenig pflichtschuldig den (kahlen) tausendjährigen Rosenstock am Hildesheimer Dom, aber die meiste Zeit verbrachten wir in Cafés. Das war schön. Zeit mit den Kindern ist ein seltener Luxus. Auch bei Regen.

Junge Frau mit Pelzjacke im Café
Tochter im Café. Hildesheim im Regen. Schöne Momente.

Übernachtet habe ich im MICHAELISKLOSTER. Das ist ein TAGUNGSHAUS der Hannoverschen Landeskirche, in dem jede Menge inspirierender Seminare zu Gottesdienst und Kirchenmusik stattfinden. Aber es ist auch für Einzelreisende ein guter Ort zum Schlafen mit viel Ruhe und wunderschöner Atmosphäre.

Michaeliskloster Hildesheim
Schöner Ort zum Schlafen: Das Michaeliskloster in Hildesheim.

ICH WAR AUCH WIEDER IN BERLIN! Endlich! Den großen Sohn besuchen und Großstadt genießen. In sehr instagrammablen Cafés vegane Cakes probieren, durch Museen und Galerien streifen, mit “MONETS GARTEN” mein erstes immersives Ausstellungsprojekt erleben, mich durch die Weltküche vom Libanon bis Laos snacken. Ja, Berlin ist laut, anstrengend, schäbig, unfreundlich. Ja, Berlin ist großartig, inspirierend, vielseitig, schön.

Berlin Straße in Charlottenburg
Berlin. Kunst gucken, Kaffee trinken, Großstadt leben.

Aber noch viel schöner als Berlin ist Paris. Die Stadt, an der mein Herz am meisten hängt. Ich habe sie auf eine völlig neue Art kennen lernen dürfen: AUF DEM FAHRRAD! Wenn mir jemand vor dreißg Jahren erzählt hätte, dass das eines Tages möglich sein würde, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt. Aber Paris hat sich verändert und ist noch schöner geworden. Grün und entspannt.

FRau Bachmann radelt durch Paris
Frau Bachmann radelt durch Paris.

Wir sind am Seineufer entlang geradelt und wie bei der Tour de France um den Arc de Triomphe gekurvt, sind durch den Bois de Vincennes gefahren und zum Eiffelturm. “Mein Paris”, das waren jahrelang das Marais und die Rue Mouffetard, die Ile Saint Louis und der Jardin du Luxembourg – das Paris der Flaneure und Fußgängerinnen. Mit dem Rad kommt man weiter. Der Horizont wird größer  –  in jeder Hinsicht. PARIS À VÉLO gehört unbedingt mit zum Besten, was ich in diesem Jahr gemacht habe.

Fahrräder vor der Bibliothèque Nationale
Paris à vélo. Vor der Bibliothèque Nationale.

Im Sommer waren wir noch einmal in Au! Wie schön ist es, einen Ort zu haben, an den man immer zurückkehren kann, der auf einen zu warten scheint und der im Sommer genauso wundervoll ist wie im Winter! Im Garten liegen und lesen und dem Gebimmel der Kuhglocken lauschen. Ganz viel Zeit am Berg verbringen.

Kuh auf der Dorfstraße in Au
Dolce Vita in Österreich. Im Garten sitzen und den Verkehr auf der Dorfstraße beobachten.

Für mich Flensburger Deern bedeutet das immer noch: Raus aus der Komfortzone! Ich bin meinen Kindern sehr dankbar, dass sie das aushalten. Sie warten auf mich, sie reichen mir die Hand. “Mama, spring einfach. Ich fang dich auf.”  Mein Vertrauen in sie ist grenzenlos und plötzlich ist alles gar nicht mehr so schwierig. Berge machen mich einfach nur glücklich.

Frau mit Hut vor Alpenlandschaft
Alpenglück. Auf 3000 Metern ist man dem Himmel ein bisschen näher.

Das mit der “richtigen” Reise muss ich aufs nächste Jahr verschieben. Dann möchte ich wirklich irgendwohin, wo ich noch nie gewesen bin. Ich bin in einem Alter, in dem man Träume nicht mehr allzulang aufschieben sollte. Für die Fahrt auf einem Frachtschiff nach New York wird es noch nicht reichen. Aber ich war auch noch nie in Perugia, Tübingens italienischer Partnerstadt. Oder auf den Färöer. Und ich habe richtig Sehnsucht nach England und Frankreich.

Tübinger Teufelspakt

Tübingen 1596. Auf dem Schreibtisch des Studenten David Leipzig findet ein Pedell einen Zettel, beschmiert mit Blut und Tinte. Der junge Mann hatte sich in seinem ersten Semester an der Tübinger Universität bis über beide Ohren verschuldet und gehofft, sich durch einen Pakt mit dem Teufel aus seiner Misere befreien zu können. Das war eindeutig Ketzerei und ein Kapitalverbrechen. Dem jungen Studenten drohte der Scheiterhaufen. Ein Gutachten der Juristischen Fakultät rettete dem verwirrten jungen Mann schließlich das Leben und der Teufelspakt des David Leipzig ist seitdem ein besonders kurioses Schriftstück im Universitätsarchiv.

Zwei Schauspiler auf dem Tübinger Marktplatz
Tübinger Teufelspakt: Wilhelm        Schickard und seine Tochter Ursula aka Thomas Schatz und Mia Ronja Fischer vom Generationentheater Zeitsprung

Tübingen 1634. WILHELM SCHICKARD, Professor für Mathematik und Astronomie der Universität Tübingen, lebt mit seiner Frau Sabine und seinen Kindern in einem schönen Haus in der Neckarhalde. Seine Leidenschaft gilt dem Sternenhimmel, der Ingenieurskunst und ungewöhnlichen Sprachen. Ein Tausendsassa, der die erste Rechenmaschine der Welt baut, Berechnungen zur Mondbahn anstellt und die erfolgreichste Hebräischgrammatik aller Zeiten herausgibt. Seine Tochter Ursula ist seine Assistentin. Aber der 30-jährige Krieg mit all seinen Verheerungen wirft einen großen Schatten auf seine Welt.

Dieser Wilhelm Schickard sollte der Protagonist meines neuen THEATERSTÜCKS werden. Seine Modernität und Vielseitigkeit faszinierten mich. Aber die Leiterin des GENERATIONENTHEATER ZEITSPRUNG, mit dem ich das Projekt realisierte, wünschte sich etwas mehr Dramatik als dieses Tübinger Professorenleben versprach.

Warum also nicht beides verknüpfen? Den verschuldeten Studenten mit seiner teuflischen Idee und den weltoffenen Professor mit seiner klugen Tochter? Im Theater ist alles erlaubt. Ich las eine Mege über Hexenverfolgungen, Astronomie, den 30-jährige Krieg, Tübingen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Aus tausend Puzzleteilchen entstand erst eine Idee, dann ein Konzept, dann eine Inhaltsangabe und schließlich schrieb ich die Dialoge. Wir kamen auf immer mehr Ideen wie die, drei Sterne um Schickard und seine Tochter herumflattern und das Geschehen kommentieren zu lassen. Nächtelang suchte ich nach drei besonders schönen Sternen, die für eine Geschichte gut waren und fand Wega, Schedir und Aldebaran. Nebenfiguren traten auf und verschwanden wieder. Aus allen Entwürfen, die letztendlich keinen Platz in der Endfassung fanden, hätte man noch fünf weitere Stücke schreiben können.

Eine Frau in einem roten Theaterkostüm
Der Himmelskönig Aldebaran (Renate Boos) auf dem Tübinger Marktplatz

Am 27. Mai 2022 hatte der “TÜBINGER TEUFELSPAKT” Premiere. Das Stück spielte an Originalschauplätzen – auf dem Tübinger Marktplatz, unterhalb des alten Universitätskarzers, vor der Stiftskirche. Das Publikum zog auf diesem Theaterspaziergang der Truppe hinterher.

Den Sommer über spielten wir 19 Vorstellungen. Fast alle waren ausverkauft, was für das ganze Ensemble ein Riesenerfolg war. Ich war so oft wie möglich dabei und jedesmal wieder fasziniert davon, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler die Sätze sagten die ich geschrieben hatte. Dass die Figuren, die ich mir ausgedacht hatte, jetzt leibhaftig vor mir standen. Dass das Publikum an den richtigen Stellen lachte und an den richtigen Stellen still wurde. Ein größeres Gefühl von Selbstwirksamkeit kann es kaum geben.

Im nächsten Jahr geht der “TÜBINGER TEUFELSPAKT”  in die zweite Runde. Im Juni und Juli wird es acht Vorstellungen geben. Ich freue mich sehr darauf.

Wandern gehen

WANDERN MACHT DAS HERZ WEIT, den Kopf frei und den Blick klar. Die langsamste Form der Fortbewegung ist wie nichts anderes geeignet, mich  einzunorden und mein Leben wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Was für ein Glück, an einem Ort zu wohnen, an dem die kleinen Paradiese direkt vor der Haustür liegen! Zwischen Schönbuch, Schwarzwald und Schwäbischer Alb gibt es Tausende von wunderbaren, abwechslungsreichen Wanderwegen. Leichte Spaziergänge für einen Sonntagnachmittag, herausfordernde Touren mit vielen Höhenmetern und schmalen Pfaden, die einiges an Trittsicherheit erfordern.

Dieses Jahr habe ich ein paar echte Highlights ausprobiert. Der FELSENMEERSTEIG in Lautlingen zum Beispiel. Jeder Kilometer dieser Tagestour ist schön. Hinter jeder Ecke wartet eine neue, bezaubernde Aussicht. WIR WAREN IM FRÜHLING DORT, als die Veilchen blühten und die lilafarbenen Teppiche im Wald waren ein echter Traum.

Veilchen im Wald
Komm, lieber Mai…Veilchen auf der Schwäbischen Alb

Ein fantastischer Spaziergang für einen langen Nachmittag durch einen oktoberfarbenen Schönbuch ist der HERZOG-JÄGER-PFAD bei Waldenbuch. Im schönsten Martinisommer konnten wir noch lange auf einer Wiese liegen und in die bunten Baumwipfel schauen. Stubensandsteinsteinbruch, Schafherden, Streuobstwiesen – und heimkommen mit dem allerletzten Licht. Der Herbst ist wunderbar.

Eine Frau steht in einem riesigen Bilderrahmen auf einer Wiese
Bildschön: ein Herbsttag im Schönbuch

Ein Lieblingsort von mir ist alles an der OBEREN DONAU. Ich liebe es, am Albtrauf zu stehen und zu sehen, wie sich der zweitgrößte Fluss Europas (der größte ist die Wolga!) als kleines Bächlein durch die Talklinge schlängelt und nur ein Radweg und die Eisenbahn daneben noch Platz haben. Überhaupt ist es schön, dort gehen zu können, wo einen nur noch die eigenen Beine hinbringen und alle anderen Transportmittel versagen. Ich war seit langem wieder im PARK VON INZIGKOFEN bei der mutigen AMALIE ZEPHYRINE und habe im NATURFREIBAD WINTERLINGEN ein paar Schwimmrunden gedreht, bin im Sommerregen durchs Laucherttal gewandert und habe an unfassbar schönen Aussichtspunkten wie dem Gespaltenen Felsen gestanden.

Felsen an der beren Donau
Nur für Schwindelfreie: Der Blick vom Gespaltenen Felsen auf die Donau

Das darf auch gerne im nächsten Jahr so bleiben. Es gibt noch viele unentdeckte Wanderwege, noch viele schöne Picknickplätze und süße Landgasthöfe, in denen man so gastfreundlich empfangen wird wie in der LAUTLINGER KRONE oder im LANDGUT UNTERE MÜHLE in Straßberg.

Gartenglück ohne Hagel und Schnecken

Seit zwei Jahren bin ich glückliche Besitzerin zweier kleiner Gärten – der Vorgarten vor dem Mehrfamilienhaus aus Gründerzeiten, in dem ich das Dachgeschoss bewohne und eine kleine Gemüseparzelle im Hinterhof. Es ist genau das, was ich noch so gerade allein bewirtschaften kann und für mich ist es ein echter Traum.

Eine Biele auf einer gelben Blüte
Ein Garten, der blüht, duftet und brummt

Im ersten Jahr war ich vollauf damit beschäftigt, alles anzulegen, umzugraben und auszuprobieren. Im Gemüsebeet pflanzte ich wild durcheinander, freute mich über viele Tomaten und aß wochenlang täglich Zucchini. Ich säte sehr teure seltene und alte Gemüsesorten aus und konnte dann die Setzlinge nicht vom Unkraut unterscheiden. Ich machte jeden möglichen Anfängerfehler und irgendwann wuchs mir mein Gemüsebeet buchstäblich über den Kopf. Den Rest erledigten die Schnecken.

Im zweiten Jahr schenkten die Kinder mir ein HOCHBEET. Ich legte schnurgerade Reihen mit Möhren und Erbsen und Roter Bete an. Es sah aus wie in einer Puppenstube. Jeden Morgen hätschelte ich meine Pflanzen. DANN KAM DER HAGEL. In zehn Minuten war das, was einmal ein wirklich schönes, gepflegtes Gemüsebeet gewesen war, ein grüner Smoothie. Zwei Wochen später hatte ich einen Fahrradunfall und lief wochenlang an Krücken. An Gartenarbeit war nicht zu denken. Ich räumte im Herbst die Wildnis auf und freute mich auf das nächste Jahr.

Diesmal war tatsächlich (fast) alles so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ab Juli habe ich kein Gemüse mehr gekauft. Ich habe wieder sehr viel Zucchini gegessen, aber auch Kohlrabi, Rote Bete, Mangold, Brokkoli, Blumenkohl, Radieschen, Bohnen, Kürbis und Tomaten. Wer einfach eine Schüssel voll überreifer Tomaten in den Mixer gibt, um das Püree dann zu einer leichten, fruchtigen Sauce einzukochen, weiß, wie sich Fülle und Luxus anfühlen.

Gemüsebeet
Glück und Gemüse

Fehler mache ich immer noch. Ich habe echte Probleme damit, Unkraut zu erkennen. Hahnenfuß und Goldruten fand ich sogar ziemlich hübsch, bis ich merkte, wie verheerend die Folgen deren ungezügelten Wachstums waren. Oft merkte ich gar nicht, dass etwas reif genug zum Essen war, weil ich darauf wartete, dass es so aussah wie überdüngtes und überzüchtetes Supermarktgemüse. Brokkoli verholzte und Paprika vergammelte. Meine Experimente mit Gemüsesorten wie Haferwurzel und Palmkohl misslangen sämtlich. Dafür weiß ich jetzt wie fantastisch selbst angebauter Kohlrabi schmeckt.

Zwei Himbeeren in einer Hand
Ich liebe Himbeeren!

Im Vorgarten saß ich kaum – es war einfach zu heiß und meine relativ ungeplante Anlage gefällt mir gar nicht mehr so gut. Außerdem bekam unsere Straße einen Fernwärmeanschluss. Der halbe Vorgarten wurde zu einem riesigen Baggerloch und es macht keinen Spaß, direkt neben einem Asphaltschneider im Garten Kaffee zu trinken.

Es gelang mir auch nicht, den Garten im Herbst richtig aufzuräumen. Im Moment bedeckt gerade eine gnädige Schneedecke die ungepflegte Wildnis. Nächstes Jahr räume ich auf und fange wieder von vorne an. Um viele Erfahrungen reicher. Mit ungebremster Begeisterung. Ich habe jetzt einen ganzen Winter Zeit, mir zu überlegen, wie ich es anders, schöner und besser machen kann.

Ostseeman

Es gab viele großartige, wunderbare, emotionale Momente in diesem Jahr. Aber der schönste, aufregendste und emotionalste Tag war der, an dem ich nur Zuschauerin war.

Mein best buddy BERND GUGEL, Stadtrat, Bademeister und Feuerwehrtaucher war auf der Suche nach einer coolen Location für seinen 14. Long-Distance-Triathlon und bei einem unserer morgendlichen Freibad-Espressi schlug ich ihm den OSTSEEMAN IN GLÜCKSBURG vor. Kurz nach Bernds 60. Geburtstag fuhren wir in den Norden.

Am 7. August stand ich um halb sechs in der Früh am Strand und schaute Bernd und den anderen Athletinnen und Athleten zu, wie sie in ihre Neoprenanzüge schlüpften. Die Stimmung vor solch einem großen Wettkampf ist sehr sonderbar. Still, konzentriert, aber auch ziemlich aufgekratzt. Kurz vor dem Start wird die Musik lauter, der Moderater aufgeregter, ein Pastor spricht einen Segen, Nationalhymnen werden angespielt. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. 10, 9, 8…und 210 Menschen mit roten Bademützen stürzen sich gleichzeitig in die Förde. Es sieht aus, als würde die Ostsee kochen.

Menschen am Strand vor einem Wettkampf
Seebrücke Glücksburg. Das Wasser hat knapp 16 Grad.

Nach dem Schwimmen ist vor dem Radeln. Bernd huscht durch die Wechselzone, dann ist er auch schon wieder weg. Im Ort findet sich ein guter Beobachtungsposten. Fans in Klappstühlen feuern mit Ratschen und Tröten die Radelnden an. Das Wetter ist wunderbar, nicht zu heiß, die Menschen am Straßenrand haben beste Laune.

Ein Sportler schiebt sein Rennrad
Die 180 Radelkilometer sind geschafft.

Der Marathon ist die härteste Probe. Die sieben Kilometer lange Strecke an der Strandpromenade von GLÜCKSBURG mag noch so schön sein – wenn man sie sechs Mal hintereinander bewältigen muss, ist es nur noch öde und anstrengend. Für die Zuschauer gibt es allerdings viel zu gucken. Am Ziel ist bald Volksfeststimmung, da wird getanzt und gefeiert. Ich tanze mit. Und warte auf Bernd. Ich sehe, wie er sich anstrengen muss, wie seine unglaubliche Energie dahin schwindet.

Bernd ist ein Vollblutsportler und der zäheste Mensch, den ich kenne. Er ist unzählige Marathons gelaufen, unzählige Skitouren gegangen und seine Fahrradkilometer reichen vermutlich bis zum Mond und wieder zurück. Manchmal frage ich mich, was ihn dazu antreibt, warum er sich diese ganze Schinderei antut – aber wenn ich die Berichte über seine spektakulären Trips lese, dann verstehe ich, dass sich Glück eben nur selten einstellt, wenn man den ganzen Tag auf dem Kanapee hockt und den inneren Schweinehund päppelt.

In der vorletzten Runde ist Bernd am Ende seiner Kraft. Muskelkrämpfe, Blasen an den Füßen, das ganze Programm. Es dauert lange, bis er wieder an mir vorbei läuft. Sehr lange. Ich mache mir Sorgen. Vielleicht ist er gestürzt. Vielleicht hat sein Kreislauf nicht länger mitgemacht. Oder seine Muskeln.  Ich werde immer nervöser. Ein erschöpfter Läufer nach dem anderen stolpert an mir vorbei. Bernd ist nicht darunter.

Ein Sportler zeigt seine Medaille.
Geschafft. Bernd Gugel ist ein Ostseeman.

Dann endlich kommt er, biegt in die letzte Runde ein. Er ist nicht gestürzt, hat sich nicht verletzt. Ich bin sehr erleichtert. Noch sieben Kilometer. Etwa eine Stunde. Nach 12 Stunden und 22 Minuten läuft er ins Ziel. Ganz großes Kino. Was für ein Tag!

Neue Arbeit

Die beiden Coronajahre mit ihren Lockdowns und Beschäftigungsverboten, Veränderungen in meinem Familienleben und das Gefühl, mit 57 Jahren nicht mehr allzu viel Zeit zu haben, Träume aufzuschieben und ungute Situationen einfach auszusitzen haben mich 2022 ziemlich in Bewegung versetzt. Ich bin seit über 20 Jahren Gästeführerin, seit über zehn Jahren arbeite ich als Pressereferentin, Redakteurin, Journalistin, Autorin, wasauchimmer. Ich rede und ich schreibe, vor allem in und über Tübingen. Dabei habe ich mich ziemlich erfolgreich an den eigenen Gartenzaun genagelt. Es brauchte vermutlich die Generalpause der Pandemie, um ein paar Fenster zu öffnen und wieder einen Blick ins Weite zu bekommen.

Viele Jahre lang war ich die Pressereferentin eines Filmfestivals. Es war eine großartige Zeit, ich habe unglaublich viel erlebt und durfte in einem fantastischen Team arbeiten, das wie eine zweite Familie für mich war. Bald hatte ich tatsächlich sehr viel Verantwortung und eine ziemlich exponierte Position. Ich habe das sehr geliebt. Aber alles hat seine Zeit und irgendwann kommt der Moment, an dem man in solch einem Job einfach nicht mehr sexy genug ist. Es war nur noch anstrengend. Mir wurde klar, dass ich zumindest eine längere Pause brauchte und ich lehnte eine Vertragsverlängerung ab. Ohne einen gleichwertigen Ersatz zu haben.

Eine Taube fliegen zu lassen, wenn man nicht einmal einen winzig kleinen Spatz in der Hand hat ist eigentlich nicht vernünftig. Schon gar nicht im Kulturbereich nach zwei Jahren Pandemie.

Aber alles hat seine Zeit. Nachdem ich losgelassen hatte und noch ganz erschrocken war über meinen Leichtsinn, flatterten zwei neue und sehr attraktive Aufträge ins Haus: Die Redaktionskoordinierung für die ANSTÖSSE, das Magazin der OFFENEN KIRCHE, und die Mitarbeit bei der DENKMALSTIMME, der Zeitschrift der DENKMALSTIFTUNG BADEN-WÜRTTEMBERG. Beides Baustellen, die zumindest teilweise von überall auf der Welt erledigt werden können, was gerade gut in meine Lebenssituation passt. Ich bin noch weit entfernt von einer digitalen Nomadin und natürlich werde ich niemals aufhören können, als “Stadtverführerin” durch Tübingen zu ziehen und Geschichten zur Geschichte zu erzählen.

Aber ich bin auf einem guten Weg. Im neuen Jahr werde ich auch meinen Arbeitsplatz ein wenig mehr mobilisieren, mit besseren Cloudsystemen und besseren Endgeräten als einem alten Laptop mit dauerkaputten Akku.

Ich bin voller Vertrauen. Die Veränderungen fühlen sich gut an.

Vom Schwimmen und Singen

Es gibt viele Dinge in meinem Leben, die mich glücklich machen. Kleine Dinge. Bücher, Blumen, gutes Essen…aber meine beiden zuverlässigsten Glücksbringer sind Schwimmen und Singen. Die Generalpause, in die uns die Pandemie schickte, war deshalb für mich besonders schwer: weder das eine noch das andere waren problemlos möglich. Komplizierte Anmeldungen und strenge Verhaltensregeln verleideten mir das Freibad und Chorproben auf Zoom oder mit riesiegen Abständen und Masken machten mich nur traurig.

Das ist jetzt vorbei. Ende April machte das FREIBAD auf und ich war fast als Erste im Wasser. Es war wunderbar, jeden Morgen meine Bahnen zu ziehen. Schwimmen ist für mich Meditation in Bewegung und auf diesem 1000 morgendlichen Metern sortiere ich mein ganzes Leben. Alles wird leichter im Wasser.

Ein leereSchwimmbecken im Freibad
Morgens im Freibad. Das Becken gehört mir.

Im Sommer war ich viel an der Ostsee. Ich nutzte jede nur mögliche Gelegenheit, um ins Wasser zu kommen. Das Wetter war fantastisch und ich genoss es, endlich wieder in einem Meer zu schwimmen.

Frau Bachmann am Strand
Frau Bachmann am Strand

Ich habe auch andere Schwimmorte gefunden. Der BEUTESEE bei Nürtingen, ein idyllisches Naturfreibad auf der Alb und den KÖRBERSEE, der angeblich schönste Bergsee Österreichs. Im Juni ist er noch so kalt, dass es einem den Atem nimmt, wenn man hineinsteigt. Aber das kalte, klare Wasser macht mich ausgelassen und ich fühle mich stark und frei, wenn ich durch den See schwimme, das Alpenpanorama wie eine überdimensionale Fototapete um mich herum.

Frau Bachmann im Bergsee
Eiskalter See mit Alpenpanorama. Im Juni ist ein Bad im Körbersee ein kleines Abenteuer.

Wieder ins Singen zurück zu finden, war mühsam. Das lag nicht nur an der mangelnden Übung. Ich werde älter und meine Stimme leider nicht besser. Sie rutscht immer tiefer und mittlerweile sind Partien, die ein selbst tiefer Alt bewältigen sollte, für mich schwindelerregend hoch. Meine Stimmbänder verkrampfen und es kommt nur noch ein heiseres Krächzen aus mir heraus, das mich erschreckt und frustriert. Nach einem ziemlich hoffnungsvollen Wiedereinstieg Anfang des Jahres und einem Osterfest mit einer PASSION von HEINRICH SCHÜTZ hörte ich im Sommer deshalb wieder auf. Mein Chor studierte die MESSE IN C-DUR von Ludwig van Beethoven ein und jede Probe war eine Enttäuschung. Wir sangen immer noch mit Coronaabständen und neben den Schwierigkeiten, die mir die hohen Töne bereiteten, wollte sich auch kein Chorgefühl einstellen. Ich hockte traurig in der Kirchenbank, stolperte durch die eigentlich wundervolle Musik und gab irgendwann auf.

Nach den Sommerferien gab ich mir noch eine Chance. Ich versäumte keine einzige Chorprobe und übte am heimischen Klavier. Langsam wurde es besser, ich bekam wieder ein bisschen Routine. Auf einem Probenwochenende in dem wunderschönen KLOSTER HEILIGKREUZTAL machte es endlich richtig “klick”. Ich fühlte mich zu Hause in meiner Stimme und war wieder Teil dieses großartigen Instruments, das ein großer Chor ist. Es war die reine Freude. Ein ganz großes Glück.

Chorprobe in der Stiftskirche Tübingen
Chorprobe in der Stiftskirche Tübingen. Noch hält meine Kantorei Abstand.

Singen und Schwimmen sind unglaublich starke Ressourcen. Wie müde, erschöpft, traurig, frustriert, wütend ich auch immer sein mag – wenn ich aus der Chorprobe komme oder aus dem Becken steige, geht es mir besser. Was immer das nächste Jahr an Veränderungen für mich bereit halten wird – ich werde schwimmen und singen, um ihnen zu begegnen.

Wahlkämpfen

Ich bin hoffnungslos harmoniesüchtig. Bei Diskussionen gebe ich schnell um des lieben Friedens willen nach und richtigen Streit ertrage ich nur schlecht. Ich gestalte gern, ich setze mich gerne für etwas ein und etwas durch und ich engagiere mich gern für Dinge, die mir am Herzen liegen. Aber Machtspiele und Rechthabereien halte ich überhaupt nicht aus.

Als ich im Frühling meinen Namen auf die Liste derer setzte, die dem amtierenden Tübinger Oberbürgermeister BORIS PALMER zu einer dritten Amtszeit verhelfen wollten, streckte ich für meine Verhältnisse meine Nase sehr weit aus meiner persönlichen Komfortzone heraus.

Auch wenn sich meine Wahlkampfunterstützung im Wesentlichen darauf beschränkte, in Facebookdiskussionen ein paar Kommentare zu schreiben, von denen ich meinte, sie seien vernünftig, deeskalierend und hilfreich, war es für mich ein spannendes halbes Jahr bis zur OB-Wahl. Auf meinen Stadtführungen wurde ich häufig direkt gefragt, wie ich denn zu diesem Palmer stände. Die meisten Menschen waren tatsächlich freundlich und interessiert. Aber ich musste mir auch gefallen lassen, als “Palmerling” beschimpft zu werden oder man warf mir vor, ich würde Tübingens Untergang heraufbeschwören. Es mag Menschen geben, die so etwas eher anspornt – ich gehöre nicht dazu.

Frau Bachmann hält ein Wahlplakat in den Händen
Wahlkampfplakatierung. Den halben Kopf hinhalten.

Im Sommer machte ich bei einer Wahlplakatkampagne mit und lieh meinem Kandidaten sozusagen mein halbes Gesicht. An einem Spätsommernachmittag hängten wir mich direkt an der Neckarbrücke auf, mit Blick zum Bürger- und Verkehrsverein. Zentraler konnte ich mich nicht mehr positionieren.

Ein Mann hängt ein Wahlplakat an einen Laternenpfahl
Wahlkampf. Bernd hängt mich auf.

Ich lernte die beiden anderen Kandidatinnen kennen, zwei sehr sympathische, schlaue Frauen. Fast tat es mir leid, sozusagen gegen sie zu sein. Eine Freundin reagierte völlig verständnislos und meinte, ich müsse doch eine Frau unterstützen und überhaupt seien drei Amtszeiten undemokratisch und es sei Zeit für einen Wechsel. Ich musste sie bitten, das Thema vollkommen aus unserer Beziehung herauszuhalten, sonst hätte ich sie verloren, was mir sehr leid getan hätte.

Dann kam der 23. Oktober. Ich war nervös. Den Nachmittag verbrachte ich putzend und bügelnd. Um kurz nach fünf radelte ich zum Rathaus, traf meine Mitstreiter*innen, alle waren völlig zuversichtlich. Ich war es nicht. Die nächste Stunde war sehr aufregend. Jeder halbe Prozentpunkt hinter dem Komma wurde wichtig. Ich musste es aushalten, ausgebuht zu werden und wäre am liebsten gegangen.

Selfie mir Bernd Gugel, Andrea Bachmann, Boris Palmer
Alberne Selfies. Viel Spaß. Große Freude.

Wir haben es geschafft. Eine knappe, aber absolute MEHRHEIT im ersten Wahlgang. Was für ein Erfolg! Wir lagen uns in den Armen, machten Selfies, auf denen wir idiotisch grinsten und waren sehr erleichtert. Ich freue mich. Aber am meisten freue ich mich darüber, dass jetzt kein Wahlkampf mehr ist.

Predigen lernen. Gottesdienste feiern

Es gibt Momente im Leben, auf die man wartet und von denen man Großes erwartet. Wenn dieser Moment dann tatsächlich da ist, staunt man manchmal über die eigene Distanz und emotionale Zurückhaltung.

Umgekehrt ist das natürlich auch möglich. Man macht etwas, von dem man meint, dass sei jetzt keine besonders große Sache – und ist plötzlich überwältigt von der Bedeutung dieses Augenblicks.

Im Sommer habe ich meine Ausbildung zur PRÄDIKANTIN der Württembergischen Landeskirche abgeschlossen. Ich darf jetzt selbständig Gottesdienste feiern und predigen. Es waren wirklich gute und intensive anderthalb Jahre, in denen ich eine Menge gelernt habe und in denen ich vielen inspirierenden Menschen begegnet bin.

Ich habe in dieser Zeit einige wirklich außergewöhnliche Gottesdienste gefeiert. Am zweiten Advent in der wunderschönen, aber eiskalten kleinen NIKOMEDESKIRCHE in Weilheim. Gleich nach Weihnachten einen Gottesdienst mit der vierten Kantate aus dem Weihnachtsoratorium in der STIFTSKIRCHE TÜBINGEN. Dort durfte ich auch zum ersten Mal auf die Kanzel. Nein, man ist dort nicht dem Himmel näher. Aber man kann die ganze Gemeinde in den Blick nehmen und spürt so sehr viel Resonanz. Das ist wirklich schön.

Stiftskirche Tübingen, Gottesdienst
Auf der Kanzel der Stiftskirche Tübingen

Am ersten Mai feierte der Tübinger CVJM einen Gottesdienst mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Diesmal gab es weder einen Altar noch eine Kanzel, sondern eine Wiese, auf der Kinder an einem kleinen Teich spielten. Ich predigte über Psalm 23 und erzählte eine Menge über Schafe.

Menschen auf einer Wiese im Wald
Der Brühlweiher im Schönbuch ist ein schöner Ort für einen Gottesdienst im Grünen.

Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) ist mein Lieblingsgremium in Kirchendingen. Ich bin sehr überzeugt vom Wert der Ökumene und in der Tübinger Arbeitsgruppe sitzen ein paar wirklich coole Leute. Mit ihnen habe ich am Pfingstmontag einen großen Gottesdienst auf dem Tübinger Holzmarkt organisiert. Es waren alle dabei. Protestanten, Katholiken, Orthodoxe, Baptisten, Methodisten – seit Einführung der Reformation im Württemberg 1534 hatte es so etwas in Tübingen noch nie gegeben.

Es kamen über 500 Menschen. Ein orthodoxer Priester sang das Psalmgebet auf Russisch und seine volle Bassstimme füllte des ganzen Platz. Das war nur einer von vielen Gänsehautmomenten. Die Predigt hielten wir zu dritt und ich war Teil davon. “Gott hat keine Arme außer unseren”, sagte die ukrainische Ärztin beim Fürbittengebet. Zum Schlusslied vibrierte der ganze Platz. Mein Herz stand sperrangelweit offen.

Im Juli fanden die letzten drei Seminartage statt. Wie immer war es gut und herausfordernd, sich so intensiv mit den eigenen und den Predigten der anderen Seminarteilnehmer*innen auseinander zu setzen.

Predigen lernen ist für mich eine ganz besondere Form kreativen Schreibens. Ich darf eine neue Sprache ausprobieren. Es geht darum, Geschichten zu erzählen, die nicht beliebig und trotzdem allgemein gültig sind. Man soll berühren ohne sentimental zu werden, persönlich sein, aber nicht privat. Und von Gott reden soll man natürlich auch. Keine leichte Übung, aber eine, die sich wirklich lohnt.

Zum Abschluss des Kurses feierten wir gemeinsam einen Gottesdienst. Unsere Dozent*innen hatten sich etwas ganz Besonderes für uns ausgedacht.

Wir standen in zwei langen Reihen einander gegenüber. Wer unten in der Reihe stand, wünschte sich ein Bibelwort, das die andere im Chor sprachen, während man durch das Spalier der Kolleg*innen und Dozent*innen zum Altar schritt. Als ich an der Reihe war, flippte etwas in mir aus. Völlig unvorbereitet. Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Mit einer solchen emotionalen Wucht hatte ich nicht gerechnet.

Menschen stehen vor einem Altar in einer Kirche
Schöner Moment: Der offizielle Dienstauftrag von der Dekanin.

Ich habe mir mit diesem Predigtamt ein riesiges Geschenk gemacht. Es ist für mich eine wunderbare Möglichkeit, Gott nahe zu kommen.

Nächstes Jahr mache ich den Sakramentskurs. Dann darf ich Abendmahl feiern und taufen. Im September heiratet eine Freundin und möchte, dass ich sie traue. Darauf freue ich mich schon jetzt.

Oma werden

Das Beste kam zum Schluss. Im Sommer hatten mein Sohn und meine Schwiegerfreundin die große Neuigkeit verkündet: “Wir werden Eltern.” Ich war überglücklich. Es scheint eine Art biologischer Uhr für das Großmutterwerden zu geben – schon seit ein paar Jahren ertappe ich mich dabei, wie ich schwangeren Frauen sehr ungeniert auf den Bauch starre, in jeden Kinderwagen hineinschaue und wieder Lust habe, auf einem Spielplatz herumzusitzen.

Ein Babyfuß in einer bunten Decke
Sind so kleine Füßchen mit so kleinen Zeh’n…

Am 10. Dezember ist meine kleine Enkeltochter auf die Welt gekommen. Schon Tage vorher war ich vollkommen überemotionalisiert. Wenn das Telefon klingelte, fing mein Herz so heftig zu schlagen an, dass mir fast die Luft weg blieb. Eines Morgens schrieb mein Sohn, sie seien in der Nacht ins Krankenhaus gefahren. Ich habe den ganzen Tag nur aufgeräumt, auf etwas anderes konnte ich mich nicht konzentrieren. Immerhin habe ich jetzt eine perfekt sortierte Hängeregistratur. Es dauerte noch eine ganze weitere Nacht und einen halben Tag. Meine Schwiegerfreundin tat mir unendlich leid. Und dann kam endlich eine Nachricht. Sie ist da. Alle gesund. Ein erstes Foto. Ein Anruf von meinem Sohn. Wir weinten beide in den Hörer und versicherten uns gegenseitig, wie sehr wir uns liebten. Meine Erleichterung und meine Dankbarkeit waren grenzenlos. Ich fühle mich unendlich gesegnet.

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