Berlin im März

Ausstellung mit Fotografien

Groß und laut und schön

Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen ich zwar keinen Koffer in Berlin hatte, aber eine Zahnbürste, Laufkleidung und einen warmen Pullover. Und die Zugabfahrtszeiten im Kopf..

Dann war ich fünf Jahre nicht mehr dort.

Jetzt bin ich wieder da und es ist wundervoll. Ich liebe Tübingen. Aber es gibt Momente, da habe ich genug von diesem schwäbischen Universitätsidyll. Dann ist dieses große Berlin ein richtig guter Ort.

Schon nach dem ersten Kaffee in der Bernauer Straße schlüpfe ich in diese Stadt hinein wie in ein lange nicht mehr getragenes, aber perfekt sitzendes Kleid. Sogar der Himmel über Berlin ist blau, was eine Seltenheit ist. Ich lasse mich durch die Straßen treiben und falle in eine leichte, schöne Reizüberflutung. Viele Autos, viele Straßenbahnen, viele Menschen, viele Schaufensterauslagen, Fahrräder, Graffitis, viel Lärm, viel Müll. Aber es tut so gut. Alles.

Café mit Blumen auf dem Tisch

Abends treffe ich den großen Sohn und die Schwiegerfreundin. Wir gehen in I DUE FORNI  am Senefelder Platz. Das ist eine riesige, laute Kantine. Die Wände sind vollständig mit Kritzeleien bedeckt, die Speisekarte ist ein echter Fresszettel und die Tischdecke hat Löcher. Aber die Pizza schmeckt wirklich himmlisch und ich genieße die lässige Atmosphäre und die vielen jungen Menschen um mich herum.

Am nächsten Morgen frühstücke ich im HAFERKATER in der Eberswalder Straße. Es gibt einen üppig mit Schokoladensplittern und Waldbeeren verfeinerten Porridge und starken, heißen Filterkaffee an einem rustikalen Holztisch. Überall hängen Blumenampeln aus Makramee und an den Nachbartischen sitzen hübsche junge Frauen in schwarzen Trainingsanzügen mit dicken Strickjacken und tippen in ihre Laptops. Ich lese und schreibe und fühle mich ein bisschen kosmopolitisch.

Potsdamer Schlössertour

Vormittags fahren wir nach Potsdam. Ein sonniger, windiger Ausflugstag im Frühling. Die Bäume beginnen zu blühen und über allem liegt ein zarter grüner Schleier.

Wir buchen die 90-Minuten-Bootstour  entlang der Parks und Schlösser. Das Schiff ist fast leer, wir sitzen auf dem Oberdeck, wickeln uns noch ein bisschen fester in unsere Schals und Winterjacken und genießen den Winde und die Sonne. Rechts und links am Ufer der Havel und des Jungfernsees liegen die Schlösschen, Kirchlein und Landhäuser wie eine Playmobillandschaft. Darunter sind immerhin gestandene 99-Zimmer-Immobilien, aber ich kann die Königin Augusta verstehen, die solch ein Schloss niedlich fand.

Blick auf POtsdam

Es geht an der Pfaueninsel vorbei, auf der Friedrich Wilhelm II. und seine Geliebte Wilhelmine Encke Landleben spielten und am Schloss Cecilienhof, wo im Sommer 1945 das Potsdamer Abkommen geschlossen wurde. Irgendwann werden die Verhandlungen, die heute in der Türkei und in Kiew geführt werden, auch in den Geschichtsbüchern stehen. Wenn es bis dahin noch eine Welt mit Schulen und Geschichtsbüchern gibt. Ich habe seit zwei Tagen weder Nachrichten gehört noch Zeitung gelesen und spüre, wie ungeheuer wohltuend es sein kann, eine Pause zu machen vom Weltgeschehen, von Krieg und Katastrophen.

Kirche Havelufer

Zum Mittagessen serviert man uns passend zu diesem leicht spießigen Ausflugsambiente einen ziemlich mittelmäßigen Kartoffelsalat mit Würstchen. Dazu zieht das frühlingshafte Havelpanorama an uns vorbei und beides zusammen fühlt sich ziemlich perfekt an.

Anschließend wollen wir ins MUSEUM BARBERINI, aber das hat dienstags, wie mittlerweile fast alle Berliner Museen, geschlossen. Also schlendern wir noch ein knappe Stunde über die Freundschaftsinsel, schauen den Gärtnern zu, die die Grünalnlagen sommerfein herrichten und wärmen uns in der Märzsonne, bevor wir nach Berlin zurück fahren.

Bummeln, lesen, essen

Den Nachmittag vertrödeln wir lesend im Café und auf der Couch. VOM AUFSTEHEN von Helga Schubert ist eine subtile, differenzierte autobiographische Erzählung. Ein Schriftstellerinnenleben in der DDR, das mit der Wende einen neuen Anfang nimmt. Eine oft schmerzliche und immer schwierige Erinnerung an die Mutter. Einfühlsame Skizzen vom Leben auf dem mecklenburgischen Land. Jedes Kapitel eine in sich geschlossene Geschichte von so großer sprachlicher Schönheit, Dichte und Präzision, dass man am liebsten ganze Passagen auswendig lernen möchte.

Buch auf Cafétisch

Abends bekomme ich ein feines Essen im SALAMAT in Mitte. Man tischt uns eine große Platte voller Köstlichkeiten aus dem Irak auf, frisch und würzig. Cremiges Hummus, knackiger Petersiliensalat, Lammhackbällchen, dazu eine Limonade mit geriebenem Apfel und Minze, die einfach köstlich schmeckt. Den Absacker nehmen wir in der TORBAR gegenüber. Gut angezogene junge Mitte-Leute, unverputzte Wände, schönes Licht und an der Wand flimmern alte, märchenhaft schöne Stummfilme. Über der Bar ein Neon-Schriftszug: “Lächelnd sah sie auf’s Meer hinaus”. Ich versinke in einem Cocktailsessel der Marke “Vintage extreme”und nippe an etwas, das aussieht wie ein Tequila Sunrise, aber besser schmeckt und mir meinen klaren Kopf bewahren hilft. Es ist absolut wundervoll, endlich wieder in Berlin zu sein.

Bild und Raum – Fotografien von Candida Höfer

Am nächsten Tag bin ich allein unterwegs. Ebenso gerne, wie ich allein wandern gehe, spaziere ich auch alleine durch eine Stadt. Ich bin Herrin meiner Zeit, kann fotografieren, so viel ich will und mich ganz dem Schauen und Beobachten hingeben. Aber heute will ich nicht nur ziellos flanieren: ich habe ein schönes Ausstellungsprogramm geplant und starte im MUSEUM FÜR FOTOGRAFIE in der Jebensstraße, zwischen Zoo und Kurfüstendamm, mit einer Ausstellung über die Räume der genialen CANDIDA HÖFER.

Treppenhäuser, Wandelhallen, Wartesäle, Bahnsteige, Bibliotheken, Theater. Labore, Büroräume, Kantinen, Kino. Candida Höfer macht Kunst aus öffentlichen Räumen, die zum Arbeiten genutzt werden, zum Feiern, zum Warten. Aber die Menschen, die diese Räume bevölkern, fehlen. Was bleibt, ist die besondere Aura eines Raumes, der nur ausnahmsweise nicht belebt ist.

Ausstellung Candida Höfer

Die Fotografien sind oft riesig, sie ziehen mich hinein in Bilder von perfekter Ästhetik. Alles wirkt cool, distanziert und ist gleichzeitig voller Pathos. Candida Höfer zeigt gute Orte. Bibliotheken. Museen. Die Schönheit von Lesesälen und Katalogen. Ich werde sehr nostalgisch angesichts all dieser Karteikästen, grüer Schreibtischlampen, Bücherregalen und Lesekojen. Eine TV-Lounge in einem Kurhotel aus den 70er-Jahren wirkt wie ein Bild aus einer anderen, exotischen, fremden Welt.

Aber nicht nur diese Räume versetzen mich in eine Vergangenheit, von der ich gar nicht wusste, dass sie schon geschichte ist, weil ich mich noch so gut daran erinnern kann. Eine Serie Schwarzweiß-Fotos aus der Kölner Weidestraße, in der viele türkische Gastarbeiter wohnten, fasziniert mich besonders. Ich sehe Bilder aus meiner Kindheit. Die damals noch so fremdländisch aussehendenMenschen, die Männer oft in Kleidung, die etwas “drüber” waren: Nadelstreifenhosen, die Koteletten noch ein bisschen länger, die bunten Krawatten noch ein bisschen breiter als die unserer Väter. Die ersten türkischen Läden, in denen die ersten Paprikaschoten lagen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Und mein Erstaunen darüber, dass Cem und Hatice dieselben Schulhofspiele kannten wie wir. Candida Höfer gelingt es, mich mit ihren Fotografien auf eine Zeitreise durch mein eigenes Leben zu schicken, von dem mir plötzlich klar wird, dass es schon ganz schön lang ist.

Mein spontanes Lieblingsbild wird jedoch das Foto einer Giraffe aus einem Zoologischen Garten.

Die Fotografien von Candida Höfer werden gespiegelt durch Aufnahmen aus der Sammlung Fotografie der Kunstbibliothek aus den letzten 150 Jahren. Silbergelatineabzüge, Daguerrotypien, Albuminapier, Kollodiumpapier. Die gleichen Motive, aber aus anderen Zeiten, anderen Blickwinkeln, von anderen Künstlerinnen und Künstlerin wahrgenommen. Unglaublich schöne, kostbare Aufnahmen, die miteinander in einen Dialog treten, der sich über Zeiten und Orte hinweg setzt.

Whole Earth Archive

Ich fahre ein bisschen Bus und laufe dann den Rest der Strecke nach Charlottenburg in die GALERIE ALEXANDER LEVY. Dort verspricht mir die Installation WHOLE EARTH ARCHIVE von Julius von Bismarck einen Blick in das Archiv des Universums. Da ich gerade für ein Theaterprojekt viel über Astronomie und Zeit gelesen habe, finde ich das spannend.

schwebende Steine

Die Galerie ist (noch, sie wird demnächst umziehen) in einem Bürogebäude in der Rudi-Dutschke-Straße. Das Treppenhaus ist beeindruckend, wunderschön und ein Relikt aus den 60er-Jahren. Ich klingele an der Galerietür, eine junge Frau lässt mich ein und ich stehe in einem Raum, der aussieht, als befände ich mich im Innern der Milchstraße. Das sind Bilder des “Cosmic Microwave Background”, erklärt das Informationsblatt. Das CMB ist die übrig gebliebene Strahlung nach dem Urknall und damit das älteste Licht des Universums.

In dem Raum hängen drei große, teilweise mit dreieckigen Spiegeln besetzte, Steine, die sich langsam um die eigene Achse drehen. Meteoriten, Asteroiden, Sternestaub. Ein Wltraumarchiv, in dem das Licht ein Speicher ist. Ein Blick in die Vergangenheit der Erde. Vergangenheit und Zukunft, Utopie und Geschichte, Science Fiction und Kunst treffen auf beunruhigend stille Art zusammen.

Kaffee und Pflanzen in der Alten Münze

Coffee and Plants Berlin

Nach diesem ungewöhnlichen Blick auf Himmel und Erde brauche ich Kaffee und Kuchen. Beides finde ich in dem wirklich hinreißenden THE GREENS – COFFEE AND PLANTS im Hof der Alten Münze. Ein echter Großstadtdschungel und ein perfektes Beispiel für Urban Gardening. Hier kann man Garten- und Zimmerpflanzen kaufen, dem Münzgarten beim Wachsen zuschauen und in einem süßen Café und einer gemütlichen Gartenwirtschaft sehr guten Kaffee aus kleinen Berliner Röstereien trinken. Dazu genieße ich einen – selbstverständlich veganen – Schoko-Orangenkuchen. Der Laden ist unbedingt instagrammable und unbedingt zu empfehlen.

 

Monets Garten

In die dritte Ausstellung des Tages gehe ich, weil es mich die besondere Art der Kunstvermittlung interessiert, die dort geboten wird. MONETS GARTEN heißt das, was eigentlich eher eine Show als eine Ausstellung ist. Mir wird ein “immersives Erlebnis” versprochen und ich bin sehr gespannt.

Monets Garten Berlin

Eine 360°-Leinwand in einem großen Saal, in der Mitte jede Menge Sitzsäcke und Polster. Für Berlintouristen, die müde vom Pflatertreten sind, ist MONETS GARTEN schon deshalb eine Offenbarung. Man lümmelt sich ganz gemütlich in diese Polster und lässt sich einfangen von einer gut gemachten, aber nicht besonders revolutionären Doku über Claude Monets Leben und Werk. Es gibt viel impressionistische Musik und die Bilder fluten durch den gesamten Raum, über Leinwände, Boden und Decke. Es ist wunderschön anzuschauen, man bekommt eine Menge mit und es ist ganz ohne jeden Zweifel eine tolle Möglichkeit, jede Schwellenangst vor “klassischer” Kunst zu nehmen. Ich verbringe eine sehr entspannte und schöne Stunde auf meinem Sitzsack und beschließe, wieder mehr Debussy, Ravel und Satie zu hören. Aber ein echtes Bild hat mehr Aura.

Noch mehr Immersion – The Genius of Leonardo

Ich treffe meinen Sohn, der mir versprochen hat, dass wir gemeinsam “etwas Schönes” anschauen werden – und komme so zum zweiten “immersiven” Erlebnis des Tages! Reiner Zufall, nichts war abgesprochen, das war seine Überraschung an mich, die ganz wunderbar zeigt, wie gut er mich kennt. Diesmal ist es eine Show über Leonardo da Vinci, noch größer und beeindruckender als MONETS GARTEN.

GENIUS heißt das Spektakel, eine interaktive Reise durch die Welt von Leonardo. Wieder gibt es atemberaubend schöne Klang-Bild-Installationen. Mein Sohn meint, die Show sei dem seit Beginn der Pandemie vermissten Clubbesuch so nahe wie möglich gekommen. Wieder wird das Publikum auf unkomplizierte Weise in das Werk Leonardos eingeführt. Aber jetzt kommt auch noch eine spielerische Komponente dazu: man kann mit der Dame mit dem Hermelin oder Mona Lisa chatten, die von Leonardo entworfenen, aber niemals gebauten Maschinen bewegen sich und die Gemälde lösen sich kaleidoskopartige Farbräusche auf, wenn man die Leinwände berührt. Wir staunen wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum.

Abschluss dieser zwei Großstadttage ist ein wunderbares Abendessen mit Sohn und Schwiefreundin im HANGMEE, wo es Spezialitäten aus Thailand und Laos gibt. Wir bestellen ein Dutzend Schälchen mit allen möglichen Leckereien und futtern uns durch einen ganzen Tisch voll feinem asiatischem Essen. Es ist köstlich.

Graffiti Berlin

 

 

 

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