Der Hagel und das Prinzip Hoffnung

Ich habe den ganzen Vormittag im Garten gearbeitet. Gejätet, gehackt, Welkes entfernt, Tomaten ausgegeizt, Stauden hochgebunden, Möhren und Rüben verzogen.
Meine Mutter sitzt neben mir, liest, schaut zu.
Schließlich ernte ich ein paar Radieschen, pflücke ein Sträußchen Petersilie und ein paar Blüten Kapuzinerkresse. Mein Garten sieht aus wie eine Puppenstube. Ich bin sehr glücklich.
“Nächste Woche”, sage ich zu meiner Mutter, “nächste Woche ist es soweit. Dann brauche ich bis Oktober kein Gemüse mehr zu kaufen.”

Danach gehen wir in die Stadt. Meine Mutter schenkt mir eine Rasenkantenschere und einen Rosmarinstrauch und wir trinken einen Eiskaffee.

Den Garten habe ich seit zwei Jahren. Ich lebe in einem Haus aus dem frühen 20. Jahrhundert. Damals war hier das, was man eine Arbeitersiedlung nannte. Im Hinterhof gibt es noch ein paar Gemüsebeetparzellen. Eine davon gehört mir. Außerdem habe ich mich des schmalen Vorgartens angenommen, wo hinter einem schmiedeeisernen Gartenzaun eine sehr hässliche Thuja auf einem Rasenstück voller Wegerich und Löwenzahn ihr trauriges Dasein fristete.

Im ersten Sommer habe ich alles umgegraben. Säckeweise Erde angeschleppt. Tütenweise Sommerblumensamen verstreut. Die ersten Tomaten und Zucchini gepflanzt. Blühende Stauden gesetzt. Ich probierte viel herum und einiges ging daneben. Vor allem das Gemüsebeet und ich mussten uns erst einmal kennen lernen.

Im Winter blätterte ich durch Saatkataloge und las Dutzende von Gartenblogs. Zu Weihnachten schenkten meine Kinder mir ein Abonnement für eine Gartenzeitschrift. Ich zeichnete Pläne und bestellte Gartengeräte und Saatgut von historischen Gemüsesorten in exklusiven Manufakturen. Im Frühling legte ich ein Hochbeet an, teilte das Gemüsebeet in handliche Portionen auf, pflanzte und säte und versah jede Reihe Möhren, Rübchen, Mangold mit Schildchen in Schönschrift. Im Vorgarten lösten Narzissen und Wildtulpen Schneeglöckchen und Krokusse ab, die Stauden reckten sich der Sonne entgegen und die im Herbst gepflanzten Heckensträucher bekamen frische Blätter.

Jeden Morgen drehte ich eine Runde um Haus und Hof, begrüßte meine Lieblinge, freute mich an jeder Knospe, an jedem Blatt, jeder Blüte. Ich suchte nach Rezepten für meine Teltower Rübchen, meine Gemüsemalve, meine weißen Möhren. Nach den Eisheiligen pflanzte ich Tomaten, Fenchel, Paprika, Auberginen. Die Bohnen und Erbsen wuchsen in die Höhe und wurden sorgfältig angebunden. Zum Geburtstag meiner Kinder Mitte Juni servierte ich wunderbar feste Salatköpfe und ein großes Glas Petersilienpesto.

Wir haben den Eiskaffee noch nicht ausgetrunken, da wird der Himmel plötzlich dunkel. Dicke schwarze Wolken ziehen auf. Die ersten Tropfen fallen. Wir beeilen uns, nach Hause zu kommen.

Dann kommt der Hagel. Er dauert keine fünfzehn Minuten, aber jede einzelne ist länger als die Ewigkeit. Es ist unbeschreiblich laut. Ich fürchte um meine Dachfenster.
Als alles vorbei ist, liegt auf der Straße eine dicke Blätterschicht. Wie im Herbst, nur grün. Durch die fast entlaubten Bäume blinzelt schon wieder die Sonne.

Von meinem Garten ist nichts mehr übrig. Der Hagel bedeckt einen großen Teil des Beetes mit einer Decke aus eisigen Murmeln. Darunter sieht es aus wie mit dem Mixer püriert. Kohlrabi und Fenchel sind zerhackt. Als hätte jemand mit einem Tomahawk gewütet. Die Schnüre, um die sich eine halbe Stunde zuvor noch Bohnen empogerankt hatten, sind leer. Im Vorgarten blüht keine einzige Blume mehr. Von den Stauden sind nur noch ein paar Stängel übrig geblieben.

Ich weinte den ganzen Abend.
Am nächsten Tag lag immer noch der Hagel im Beet. Dann kam der Regen. Dann die Schnecken.
Ich zupfte hilflos an den geschredderten Blättern herum und wusste nicht wo ich anfangen sollte. Außerdem musste ich arbeiten. Nach dem langen Lockdown kamen endlich wieder Aufträge herein, die ich unmöglich absagen konnte. Schließlich musste ich auch noch operiert werden. Eine Bagatelle nach einem Sturz mit dem Fahrrad, aber ich lag drei Tage in der Klinik, lief drei Wochen an Krücken und konnte mich nicht bücken, nicht knien, nicht kauern.

Ein Garten ist geduldig. Aber er macht was er will, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Und entwickelt dabei eine beachtliche Geschwindigkeit.
Ich stand auf meine Krücken gestützt vor dem, was einmal mein Beet gewesen war, sah den Schnecken beim Fressen zu und beobachtete, wie die Ackerwinde sich um die Tomatenstangen rankte.

Freunde posteten Vorher-Nachher-Bilder ihrer mittlerweile halbwegs wieder hergestellten Gärten.
Bei mir sah es aus wie im Dschungel. Die vielen Mühen des Frühjahrs trugen reiche Frucht. Stundenlang hatte ich die Erde mit einem Sauzahn gelockert, immer wieder alles durchgehackt, Kompost und frische Gartenerde aufgebracht, Hornspäne und Schafwolle eingearbeitet. Das freute alles, was wachsen wollte. Und das war eine Menge.

Irgendwann ging ich gar nicht mehr über den Hof. Ich schämte mich auch vor meinen russischen Nachbarn, die täglich ihre Parzellen beackerten und noch erstaunlich viel retteten.
Nach sechs Wochen sah ich durch das Küchenfenster etwas Rotes im mittlerweile völllig zugewucherten Urwald. Eine Tomate! Und eine Zucchini! Und ein paar Blätter Mangold!
Die Natur war klüger gewesen als ich und hatte sich mit den ungeladenen Gästen arrangiert.
Im Vorgarten kämpften sich Ringelblumen, Rudbeckia und Echinacea durch die mittlerweile vertrockneten und vergammelten Reste von Jungfer im Grünen, Phlox und Stockrosen.

Der erste Versuch, im Gemüsebeet Ordnung zu schaffen, ging schief. Nach einer Stunde hatten die Schmerzen gewonnen und ich musste vom Platz. Nach einer weiteren Woche wagte ich mich in den Vorgarten. Entfernte Berge von Schöllkraut, schnitt die geschredderten Stauden herunter und entsorgte alles, was Hagel, Regen, Schnecken und Vernachlässigung nicht überlebt hatte.
Mein gambischer Nachbar brachte mir ein großes Stück Wassermelone: “You will make it nice again!”, munterte er mich auf.
Als ich fertig war, sah es ordentlich und traurig aus. Zwischen den Überlebenskünstlern und den Hochsommerblumen war viel nackte Erde. So sollte es nicht bleiben.

Ich sattelte mein Fahrrad, fuhr zu meiner Lieblingsstaudengärtnerei und kaufte eine Kiste voller Schönheiten. Phlox, den liebe ich sehr. Vanillefarbene Skabiosen, Wasserdost, Stockrosen und meinen neuen Liebling, Verbena Bonariensis oder Patagonisches Eisenkraut. Die langen, staksigen Stängel mit den flachen Blütendolden sind so filigran, dass sie zwischen alles andere passen und  für Ausgleich und Balance und sorgen – gerade wenn man, wie ich, kein konsequentes Farbkonzept verfolgt. Die violetten Blüten harmonieren mit Gelb ebenso gut wie mit allen Rosatönen und schaffen so schöne Übergänge.

Am nächsten Morgen drehte ich wieder meine Runde und begrüßte meine Lieblinge, die alten und die neuen. Nachmittags trank ich zum ersten Mal seit Wochen meinen Kaffee wieder im Garten. Und in der nächsten Woche räumte ich zumindest das Hochbeet auf. Da wächst jetzt Kürbis.

Eine Puppenstube ist mein Gemüsegarten nicht mehr. Aber er zeigt mir mit  liebevoller Beharrlichkeit, dass man nichts verloren geben sollte. Irgendetwas geht immer. Man kann immer wieder neu anfangen. Und irgendwann den Urwald auch wieder in eine Puppenstube verwandeln. Nicht heute, nicht sofort, aber bald. Ein Garten verzeiht alles. Fast alles. Sogar Hagel, Schnecken und Vernachlässigung. Nächstes Jahr werde ich von Juni bis Oktober kein Gemüse mehr kaufen müssen.

 

 

 

 

 

 

3 Antworten

  1. Das ist eine schöne, mutmachende Hoffnungsgeschichte.
    Gutes Gedeihen für dein Gartenglück, möglichst ohne weitere Unwetter, Hagelschauer und Schnecken.

  2. Eine faszinierende kleine Komposition ist das und eine erfrischend kreative Verarbeitung einer solch niederschmetternd klingenden Erfahrung. Danke für diesen Text.

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