Als “last man reading” bezeichnet sich Tobias Nazemi in seinem uneingeschränkt empfehleswerten Blog BUCHREVIER. Glücklicherweise gibt es dann doch noch ein paar “reading men”, zumindest in meiner Bubble, aber “reading women” gibt es natürlich viel, viel mehr. Ich bin eine davon. Ursprünglich hatte ich vor, zu jedem Buch, das ich lese, einen eigenen Text zu verfassen – dann könnte man für 2022 bei Frau Bachmann 26 Rezensionen finden.
Okay – über diese Jojo Moyes-Schmonzette oder jenen historischen Schmöker aus einem schwäbischen Kleinverlag brauche ich vielleicht nur zu schreiben, dass es schön war, auf der Couch zu liegen, Haribo zu futtern und mich für ein paar Stunden aus meinem Alltag wegzuträumen. Aber ich habe ein paar echte Entdeckungen gemacht und mich auch durch ein paar Sach-und Fachbücher gearbeitet, die mich eindeutig gescheiter gemacht haben. DER NACHTWÄCHTER von Louise Erdrich zum Beispiel oder VOM AUFSTEHEN von Helga Schubert. WARUM LIEBE WEH TUT von Eva Illouz oder eine Geschichte der christlichen Mystik von Volker Leppin: RUHEN IN GOTT.
Und dann gab es natürlich Bücher, die ich mit angehaltenem Atem gelesen habe, mit einem Bleistift in der Hand, die ich mit Bedauern zugeklappt oder bei denen ich viele Seiten doppelt und dreifach gelesen habe. Hier sind sie. Meine Bücher des Jahres 2022.
Amy Liptrot – THE INSTANT
NACHTLICHTER fand ich so großartig, dass ich mich für das zweite Buch der orkadischen Autorin sogar an das engliche Original gewagt habe, weil ich nicht auf die Übersetzung warten wollte. Das hat sich gelohnt. Amy Liptrot fasst sich gerne kurz. Knappe Sätze, herb, nüchtern, voll verdichteter Emotionen. Im englischen Original ist diese spröde Poesie noch viel greifbarer.
Sie reist von Orkney nach Berlin, weil sie sich verlieben will und hofft, dass das in einer großen, kosmopolitischen, fremden Stadt voller junger Leute leichter möglich ist als am äußersten Meer, am schottischen Rand der Welt. Wer lange und unfreiwillig allein war, kennt diese Sehnsucht. Die grauen Nachmittage, die schmecken wie abgekauter Kaugummi, das Gefühl, wenn man niemanden hat, dem man eine Whatsapp voller Herzchen schicken kann. Sie schreibt über Einsamkeit. Schonungslos, schmerzlich, unmittelbar. Sie staunt über ihre konventionellen Wünsche. “My body is so lonely and has been for years.”
In Berlin lebt sie in zwischenvermieteten Zimmern in den Habseligkeiten anderer Menschen, richtet sich in einem Provisorium aus kleinen Jobs und Ersparnissen ein, sucht die Unbeständigkeit und leidet gleichzeitig an ihr. Sie läuft durch die Straßen, genießt die Anonymität und fühlt sich trotzdem verloren. Sie lernt Deutsch, trifft sich mit anderen Expats, von denen es in Berlin mehr zu geben scheint als in jeder anderen europäischen Großstadt und hat Dates.
AMY LIPTROT ist nicht so sehr eine digitale Nomadin sondern eine digitale Einsiedlerin. Als Vogelwartin auf Papa Westray war das Internet ihre Verbindung zur Welt. Sie reist auf Google Maps und durch die Galaxien astronomischer Vereinigungen. “I fall asleep. I dream I am a bird flying high above the internet.”
Sie ist gebildet und interessiert, schlau und aufmerksam und es ist ein sehr großes Vergnügen, ihren Überlegungen zu allem was ihr im analogen und im digitalen Raum begegnet zu folgen. Ihre Naturverbundenheit und ihre digitale Kompetenz sind gleichermaßen beeindruckend und beweisen – zumindest Menschen in meinem Alter, denen man das vielleicht manchmal beweisen muss – dass sich das eine und das andere nicht ausschließen.
Ich liebe ihre Beschreibungen der Nachtseite der Stadt. Sie schreibt nicht über die Clubs und Kneipen, sondern über die Vögel in den Parks, dem Mond über den Straßen. THE INSTANT ist ein Großstadtbuch voller großartiger Naturbeschreibungen. Birdwatching ist nicht nur auf atlantischen Inseln möglich, sondern auch auf dem Tempelhofer Feld, wo Habichte und Nebelkrähen leben. Amy Liptrot geht regelrecht auf die Jagd, sitzt lange Stunden vor ein paar Müllcontainern und wartet auf Waschbären.
Sie verliebt sich tatsächlich. Es trifft sie mit voller Wucht. Sommer und Sex in der Stadt. Nähe. Träume von einem Leben zu zweit. Wild und frei und intensiv. Ein paar Wochen lang. Dann beendet er die Beziehung mit einer Mail.
Selten hat jemand mit so viel Eleganz sein gebrochenes Herz vor sich her getragen. Ihr Liebeskummer ist tief und echt und existenziell. Nächtelang sucht sie nach Erklärungen, nach Spuren des Liebsten im Internet, nach Nachrichten. Er kommt nicht zurück. Im Herbst verlässt sie Berlin und reist zurück nach Orkney, allein und verzweifelt, aber mit der Gewissheit, gefunden zu haben, was sie suchte: “Berlin broke my heart but I’m glad that I was able to let it.”
Amy Liptrot lesen verändert meinen Blick auf mein eigenes Leben. Ihre Stärke und ihre Schönheit bringen mich dazu, meine eigene Komfortzone zu verlassen, mich zu hinterfragen, Neues auszuprobieren, aufzubrechen. Mehr kann Literatur eigentlich nicht erreichen.
Antonia Byatt – FRAUEN DIE PFEIFEN
Der Roman der britischen Autorin lag über fünfzehn Jahre auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Ich hatte ihn in einem Freibadsommer bekommen und mich wirklich gefreut, denn BESESSEN, für den Antonia Byatt 1990 den Booker Prize erhalten hatte und von der Queen zur Commander of the Order of the Britisch Empire ernannt worden war, fand ich absolut großartig. FRAUEN DIE PFEIFEN legte ich aber bald wieder zur Seite. Die schiere Menge an Figuren, Handlungssträngen, klugen Gesprächen und noch klügeren Briefen überforderten mich zwischen meinen schwimmenden, rutschenden, plantschenden Kindern komplett.
Aber das Buch blieb hartnäckig bei mir. Selbst einen Umzug machte es mit. Als ich die Bücher aussortierte, mit denen ich mich in meiner neuen Wohnung und meinem neuen Leben nicht mehr belasten wollte, wollte ich es schon in die Momox-Kiste legen – aber es gab nichts mehr dafür und so beschloss ich, es zu behalten und endlich zu lesen. Das war eine sehr gute Entscheidung.
Der Roman spielt 1968 und damit in einer Welt, die mir noch vertraut ist, die aber schon reichtlich Patina angesetzt hat. Eine Welt ohne Internet und ohne Computer, sogar Telefone sind noch nicht völlig selbstverständlich. Das Fernsehen ist eine brandneue Erfindung und eine Frau, die eine Talk-Show moderiert, ist an hipper Coolness nicht zu übertreffen. Frederica heißt sie und ihre Sendung trägt den verheißungsvollen Titel “Hinter den Spiegeln”. Mit einem Panoptikum kurioser Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Intellektueller verlieren wir uns mit ihr in einem Labyrinth aus Kunst, Literatur, Philosophie, Psychologie, Geschichte. Alle reden die ganze Zeit.
“Ich habe studiert. Literatur. Ich glaube nämlich daran, dass man besser denken lernt, wenn man darüber Bescheid weiß, was andere Leute gedacht haben und wie sie gedacht haben”, sagt Frederica und ich bin sehr mit ihr einer Meinung.
“Mädchen die pfeifen und Hennen die krähen, denen soll man beizeiten die Hälse umdrehen.” Ich war zwar erst zarte drei Jahre alt, als Frederica beim Fernsehen Karriere macht, aber das Dilemma der Protagonistinnen, einerseits mehr vom Leben zu erwarten als das Leben einer Hausfrau und Mutter in einem gepflegten Vorort und andererseits genau das vom Leben zu erwarten – oder glauben erwarten zu müssen – ist mir nicht unvertraut.
Neben dem Fernsehen gibt es die Universität. Gerard Wijnnobel plant eine Konferenz über Körper und Geist und seine Frau erstellt Horoskope. Luk Lysgaard-Peacock und seine Mitarbeiterin Jacqueline forschen an Schnecken und dann ist da der psychotische Josh Lamb, der auch aus einem Roman von Hanya Yanagihara stammen könnte. Und noch viele mehr.
Studenten gründen eine Anti-Universität – die hochgebildete, belesene Antonia Byatt, die “postmoderne Königin viktorianischer Erzählvirtuosität”, wie eine Rezensentin sie nennt, lässt keinen Zweifel daran, wie albern sie diese Bildungs- und Kulturkritik findet. Man gründet eine esoterisch angehauchte WG auf dem Land und landet in der Psychiatrie und es ist erstaunlich, wie sehr sich all diese Orte ähneln. Frauenbewegung, politischer Aktivismus, Esoterik, Medien, Sekten – alles, was vor 60 Jahren irgendwie irgendwen bewegt hat, kommt vor und alle und alles sind miteinander verbunden. Ein echter Gesellschaftsroman also, elegant geschrieben, mit viel Sympathie für jede einzelne der verschrobenen Figuren , aber auch mit einer großen Portion britischer Reserviertheit und Diskretion.
Das macht manchmal etwas atemlos und überfordert und man sollte unbedingt ein bisschen Zeit am Stück für die FRAUEN DIE PFEIFEN mitbringen, um sich in diesem Labyrinth nicht zu verlieren. Aber dann sind all die verunglückten Liebesgeschichten, die echten und eingebildeten Verrücktheiten, das Kaleidoskop aus Landkommune, Campus und Lichtern der Großstadt äußerst vergnüglich.
Natürlich ist auch alles ungeheuer britisch. Wer, wie ich, eine Schwäche für diesen Charme aus Tweed, Tea and Scones hat, wird Frederica und ihre Welt lieben.
Bérengère Cournut – DE PIERRE ET D’OS
Ein wunderschönes Buch. Kraftvoll und poetisch. Märchenhaft. Ich habe es wirklich geliebt und es hat noch sehr lange in mir nachgehallt.
Die Pariser Schriftstellerin Bérengère Cournut erzählt die Geschichte von Uqsuralik, einer 13-jährigen Inuit, deren Leben eine dramatische Wendung nimmt. Als sie eines Nachts kurz das Iglu verlässt, in dem sie mit ihrer Familie schläft, bricht das Eis, auf dem sie steht und sie treibt davon. Ihrem Vater gelingt es gerade noch, ihr ein Bärenfell und ein Amulett zuzuwerfen. Dann ist sie allein in der Polarnacht. Nur ihre Hündin Ikasuk und deren Welpen begleiten sie.
Sie schlägt sich wochenlang alleine durch, verhungert fast, kämpft um ihr Überleben, lebt mit Geistern in Traum- und Zwischenwelten, bis sie schließlich auf eine Gruppe Inuit trifft, die sie aufnimmt. Keine Unbekannten, man kennt sich vom Sommerlager.
Uqsuralik wird eine begabte Jägerin. Sie geht auf die Robbenjagd, lernt Kayak fahren, verliebt sich in Tulukawaq.
Aber einfach ist ihr Leben in dem neuen Clan nicht. Missgunst, Eifersucht, Gewalt, Enttäuschungen und Verbitterungen existieren auch im ewigen Eis. Sie wird vergewaltigt, ihr Liebster ertrinkt auf der Jagd.
Uqsuralik verlässt die Familie, lebt aufs Neue allein, ernährt sich von Eiern und findet schließlich wieder eine Gruppe Inuit, der sie sich anschließen kann. Sie ist schwanger und bekommt eine Tochter, sie findet Liebe und Geborgenheit.
All das erzählt Cournut mit größtmöglicher Sachlichkeit, unsentimental, lakonisch. Strapazen, Hunger, Gewaltmärsche. Eine Welt, in der Leben und Tod ganz nah beieinander sind. Aber auch eine Welt voller Poesie und Gesang. Für alles gibt es ein Lied.
Nie wird der Kontakt zur geistigen Welt in Frage gestellt. Die Magie ist überall. Geistwesen begleiten die Menschen.
Uqsuralik begegnet einem Schamanen. Naja der Grönländer wird die Liebe ihres Lebens. Er bildet sie zur Schamanin aus und sie kommt den Geistern näher als je zuvor.
Ich war verzaubert von dieser so absolut fremden Welt, die sich vor mir ausbreitete. Die Arktis. 1905.
Für diesen außergewöhnlichen Bildungsroman hat sich die Autorin fast ein Jahr lang in den Archiven des Musée Nationale d’Histoire Naturelle in Paris vergraben und über die Kultur und den Alltag der Inuit zu Beginn des 20. Jahrhunderts geforscht, sie hat lange Gespräche mit wichtigen Anthropologen geführt und sich intensiv mit den Erzählungen, Legenden und Gesängen, mit der schamanischen Tradition und der Kunst der indigenen Völker der Arktis auseinander gesetzt.
Einen “Ethno-Roman” nennt Cournut diese traumhafte Erzählung von einer jungen Inuit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das ist nicht unwichtig. Denn letztendlich ist DE PIERRE ET D’OS eine traumhafte, traumwandlerische Reise durch Raum und Zeit. Wer danach – und zwar mindestens ebenso poetisch, aber dafür weniger fantastisch – seine Bekanntschaft mit den Menschen der Arktis vertiefen möchte, dem seien die Bücher von Naomi Fontaine empfohlen: KUESSIPAN und MANIKANETISH sind autofiktionale Texte, die einen mindestens ebenso intensiven, aber weit gegenwärtigeren Blick in das Leben der Innu und Inuit werfen.
Daniel Schreiber – ALLEIN
Daniel Schreiber ist furchtbar schlau, gebildet und belesen und er schreibt kluge Sätze, die ich anstreiche, um sie nicht zu vergessen. Ich fühle mich sehr direkt und sehr freundlich angesprochen. Schreiber kommt einem nahe, trifft das eigene Lebensgefühl, aber was er schreibt, ist so viel mehr als bloße Betroffenheitsrhetorik. NÜCHTERN habe ich schon oft verschenkt. Es ist das beste Buch über den problematischen Umgang mit Alkohol, das ich kenne. Auf ALLEIN war ich sehr gespannt und fand es wieder großartig. Außerdem liebe ich alles, was Daniel Schreiber auf Insta postet, vor allem die wunderbaren Wochenrückblicke und ich lese sehr begeistert seine Kunstkolumnen und Dear Daniel. Mittlerweile ist mir, als würde ich ihn persönlich kennen.
Und damit wären wir fast beim Thema: wer sich verbunden fühlen kann, selbst mit einem Berliner Essayisten, dem man nur im virtuellen Raum und zwischen zwei Buchdeckeln begegnet, fühlt sich weniger allein.
Ich lebe seit drei Jahren allein. Zum ersten Mal in meinem Leben. Der Start war schwierig – sechs Wochen nach meinem Auszug aus der Wohnung, in der ich mit meinen vier Kindern gelebt hatte, bis diese nach und nach das mütterliche Nest verließen, bescherte mir die Corona-Pandemie mehr Alleinsein als ich verkraften konnte. Ich war nicht allein mit diesem Alleinsein – der Essay von Daniel Schreiber gehört zu den vermutlich am häufigsten gelesenen und am meisten diskutierten Büchern der letzten Jahre. Voll verdient übrigens.
Was genau ist eigentlich “allein”? Ist man allein, wenn man ohne eine andere Person in einer Wohnung lebt? Wenn man keine Kinder hat? Wenn man nicht verliebt ist? Keine Partnerschaft hat? Keinen Sex hat? Kann man ohne romantische Beziehung überhaupt ein gutes Leben führen? In einer Gesellschaft, die angeblich allen alle Freiheiten lässt, sind die Möglichkeiten dessen, was als gutes Leben angesehen wird, erstaunlich gering: Sie beschränken sich auf Wohlstand und Liebesglück.
Menschen, die alleine leben, ohne feste Partnerschaft, und nichts zu vermissen scheinen, wirken verdächtig. Die meisten Männer, die ich kennen gelernt habe, meinten immer, mich vor einem sehr schlimmen Schicksal retten zu müssen. Vor ein paar Wochen war ich mit einem Mann essen, der in meinem Leben eine Zeitlang eine wichtige Rolle gespielt hatte. Wir plauderten über alles Mögliche, ich erzählte von neuen Projekten, schönen Erlebnissen, inspirierenden Begegnungen. Er hörte etwas zerstreut zu, bis ich andeutete, dass es auch einen neuen Mann in meinem Leben gab. Das war DIE Neuigkeit. Er umarmte mich, beglückwünschte mich, wollte alles über diesen Mann wissen, wünschte mir alles Glück dieser Welt und schien rundherum erleichtert.
Schreiber dekonstruiert dieses Ideal der romantischen Liebe, wo “Beziehungslosigkeit” als Scheitern wahrgenommen wird und singt stattdessen ein Lob auf die Freundschaft. Er schreibt über seine eigenen Freundschaften – die die Leserin als so gelungen empfindet, dass sie den Autor ein bisschen darum beneidet. Aber auch über die Freundschaft als kulturelles Konstrukt, über Freundschaft in der Literatur, darüber, wie sich der Blick auf das, was wir Freundschaft nennen, im Laufe der Jahrhunderte verändert. Er fährt Philosoph*innen von Aristoteles bis Hannah Arendt auf und es ist ungeheuer anregend, ihm in seine persönliche Bibliothek zu folgen.
“Ich bin allein, aber nicht einsam.” Schreiber entlarvt diesen etwas trotzigen Satz, den vermutlich alle schon einmal gesagt haben, die man auf ihr Alleinsein angesprochen hat. Natürlich ist man manchmal einsam, wenn man allein lebt. Einsamkeit ist eine Begleiterscheinung des Lebens allein. Menschen waren schon immer einsam, das ist eine existenzielle, unabwendbare Erfahrung. Aber auch eine, über die man nicht spricht. Einsamkeit ist ein Tabuthema. Wer einsam ist, macht irgendetwas falsch. Ist vermutlich weder liebesfähig noch liebenswert. “Je einsamer ich mich fühlte, desto weniger konnte ich darüber reden. Und je weniger ich darüber sprach, desto einsamer fühlte ich mich.”
Pandemie und Lockdown haben all diese Gefühle noch einmal unter ein Brennglas gelegt. Auch Daniel Schreiber bringt das erzwungene Alleinsein an seine Grenzen. Zu lesen, dass es noch jemanden gab, dem es genauso schlecht ging wie mir, der wie ich nicht in der Lage war, diese Ausnahmesituation als Auszeit zu genießen tat mir so gut, dass sich nur deswegen die Lektüre von ALLEIN schon gelohnt hätte. “Die Zeit schien sich in sich selbst zu falten”, schreibt Daniel Schreiber und es ist wunderbar, wenn jemand die eigenen Gefühle in so schöne Worte kleiden kann.
Die Pandemie als Zustand größtmöglichen Verlassenseins. I feel you, Daniel! Mir ging es entsetzlich schlecht und ich hatte gleichzeitig das Gefühl, das dürfte nicht sein und fühlte mich deswegen auch noch schuldig. Meinen Mangel an Resilienz empfand ich als Scheitern.
Aber es ging vorbei. Es hat mich gerettet, immer wieder nachzumerken, was noch gut war an meinem Leben und das war eine ganze Menge. COUNT YOUR BLESSINGS. Das half.
Schreiben. Yoga üben. Wandern: “Wenn man nichts anderes tut als einen Fuß vor den anderen zu setzen scheint sich das Denken neue Bahnen zu suchen.” Festhalten an Fantasien und Utopien. Daniel Schreiber lotet aus, was aus Einsamkeit, Traurigkeit und Weltschmerz wieder das Alleinsein macht, das gut tut, das geprägt ist von Produktivität, Selbstwirksamkeit, Verbundenheit.
Der Philosoph Odo Marquard spricht von Einsamkeitsfähigkeit. Die Kraft, allein zu sein, ließe sich üben. Es brauche Humor in Form einer lächelnden Distanz zu sich selbst. Bildung, um aus Büchern, Bildern, Musik Zuwendung zu ziehen. Glauben. Gott ist für die Gläubigen der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Ich finde das bemerkenswert.
ALLEIN sind 140 Seiten. Lektüre für einen Regentag. Stoff zum Nachdenken für die nächsten Jahre. Und eine Leseliste für’s Leben.
Eva Christina Zeller – UNTERM TEPPICH
Auch Eva Christina Zeller schreibt erlesen schöne Sätze. Ich liebe ihre Gedichte und ich scheine nicht allein zu sein mit dieser Liebe. Ihr erster Gedichtband STIFTSGARTEN erlebte sogar mehrere Auflagen. Für zeitgenössische Lyrik ist das eher ungewöhnlich. Zeller ist eine Meisterin der Wahrnehmung. Sie schreibt so Sätze wie “Das Quietschen der Tür hat das Ohr behalten”, und ich höre diese Tür, für immer. Die Sprache sei ein Urlaubsort, den man ganz für sich alleine hat. Ich freue mich, dass ich ab und zu bei ihr zu Gast sein darf.
UNTERM TEPPICH ist kein Gedichtband, sondern ein Roman in kurzen, lose miteinander verbundenen Prosatexten. Erzählt wird das Inslebenkommen eines Kindes, eines Mädchens, einer Frau. Die Autorin ist sehr nah dran an der Ich-Erzählerin.
Mit der Erzählerin teile ich die kollektiven Erinnerungen der in den 60er-Jahren Geborenen. Kratzige Strumpfhosen, kaltes Nesquick und man machte ständig etwas falsch und wusste nicht warum. Die Kindheiten waren durchzogen von Angst, Schuld, Scham, Unwissenheit. In unserem Leben spielten Mütter eine Hauptrolle, die von Freiheit träumten und uns Anpassung lehrten. Unsere Welt war voller Ambivalenzen, die wir nicht alle immer auflösen konnten. Und immer fühlten wir uns unzulänglich.
“Ich sah den Rücken und überholte mich. So eine Person kann man nur hinter sich lassen.”
Die Erzählerin verbringt ein Jahr in den USA. Sie reist nach Paris, Griechenland, Irland, Norwegen. Sie lässt sich auf komplizierte Beziehungen mit komplizierten Männern ein, die sich nicht einlassen können. Sie macht Erfahrungen mit Missbrauch, Scham und Schuld. Ich fürchte, nahezu alle Frauen unserer Generation haben solche Erfahrungen gemacht. Wir haben den Mund gehalten, geduscht und uns eingeredet, das seien eben so Frauenerfahrungen, das gehöre dazu.
Wir konnten nichts sagen, weil wir dann selbst schuld gewesen wären.
Wir konnten nichts sagen, weil wir dann unsere Freiheit verloren hätten.
“Sie wusste, Frauen leben in einem Krieg, wenn sie in die Welt hinaus wollen, aber darüber spricht man nicht.”
Es geht immer um alles in diesem schmalen Band. Um Tod und Liebe. Wie im Märchen. Eva Christina Zeller nimmt mich mit in ein surreales, grausames und geheimnisvolles Märchenland. Ihre Texte werden zu einem fliegenden Teppich, auf dem sie entkommt. Schreiben, um frei zu sein.