Wilhelm Dreesen. Ein Flensburger Fotograf reist durch die Belle Epoque

Auf dem Museumsberg in Flensburg hat man eine sensationelle Entdeckung gemacht: In zwei vergessenen Holzkisten fand man einen Teil vom Nachlass des kaiserlichen Flensburger Hoffotografen Wilhelm Dreesen, der mit seinen Landschaftbildern aus der ganzen Welt Fotografiegeschichte geschrieben hat und kuratierte eine sehenswerte Ausstellung dazu: „Discovering Dreesen“ ist eine unglaubliche Zeitreise in die Belle Époque, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, den Charme der Gründerzeit. Ein großartiger Blick auf das Selbstverständnis einer Epoche.

Mädchen auf einem Bootssteg

Mein Lieblingsbild: Eine junge Frau steht auf einem Bootssteg, den Rücken zur Betrachterin gewendet. Das Wetter scheint schön zu sein. Sommer, Sonne, Ostsee. Die Frau trägt eine ärmellose Bluse und helle Shorts. Ihre Körperformen zeichnen sich deutlich unter der dünnen Badebekleidung ab. Sie ist schlank, sportlich und sehr feminin, ihre Haltung lässig und sinnlich.

Die Fotografie ist Ende des 19. Jahrhunderts an einem Strand an der Flensburger Förde entstanden. Vermutlich durfte sie damals nur unter dem Ladentisch verkauft werden, das war schließlich die Zeit, in der man Decken über Tische hängte, damit man deren Beine nicht sah.

Zwei Kisten voller Negative

Das Bild gehört zu einer Sammlung von ungefähr 300 Fotografien, die in Form von Glasnegativen jahrelang im Depot des Flensburger Museumsbergs in zwei schäbigen Holzkisten im Dornröschenschlaf lagen. Vermutlich waren sie in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts ins Museum gekommen und einfach vergessen worden.

Vor einigen Jahren wurde das Museum kernsaniert. Das Haus musste komplett leer geräumt werden. Dabei fand man die beiden Kisten. „Dreesen“ stand darauf. Eine Volontärin wurde damit beauftragt, die Glasnegative zu sichten und zu katalogisieren. Der Inhalt entpuppte sich als eine echte Sensation. Wunderschöne Porträtfotos, prachtvolle Seestücke mit Segelschiffen, Aufnahmen vom Flensburger Hafen, der Förde, der Angeliter Landschaft, aber vor allem Bilder, die Wilhelm Dreesen auf seinen zahlreichen Reisen rund um den Globus gemacht hat. Es ist ein echter Schatz, den man da geborgen und ausgestellt hat. Die Fotografien sind künstlerisch und handwerklich erstklassig und bieten einen fantastischen Einblick in das Leben der Menschen in der Kaiserzeit und die Luxusreisen der Belle Époque. Man hatte einen der besten Fotografen aus der Pionierzeit der Fotografie wieder entdeckt.

Ein Waisenkind wird Fotograf

Alte Kamera in einem Museum

Wilhelm Dreesen hatte 1840 das Licht der Welt erblickt. Nach dem frühen Tod seiner Eltern kam er gemeinsam mit seinem Bruder in ein Militärinternat nach Eckernförde. 1864 kämpfte er als sogenannter Stellvertreter im preußisch-dänischen Krieg an den Düppeler Schanzen: Ein reicher Däne hatte den jungen Dreesen gut dafür bezahlt an seiner Statt in die Schlacht zu ziehen. Dort lernte Dreesen einen Fotografen kennen, der ihm die Grundlagen dieses neuen Handwerks beibrachte.

Das Geld des Dänen reichte für das Ende der Militärlaufbahn und den Start in die Selbständigkeit. 1865 eröffnete der 25-jährige Wilhelm Dreesen in Flensburg ein Fotografie-Atelier und  avancierte schnell zu einem ebenso gefragten wie begabten Fotografen. Seine Frauenporträts sind von dichter atmosphärischer Schönheit. Man musste damals für ein Foto noch minutenlang stillhalten, die Belichtungszeiten waren endlos. Trotzdem gelang es Dreesen, alles Starre und Steife dieser gestellten Atelierbilder verschwinden zu lassen, die Bilder wirken so frisch wie Porträts von Renoir.

Malerische Fotografie

Die technischen Möglichkeiten der Fotografie wurden immer besser. Dreesen nutzte alle Neuerungen, die auf den Markt kamen und investierte in immer bessere Kameras und Entwicklungsverfahren. In der Fotografie sah er weniger ein Handwerk als eine der Malerei verwandte Kunstform. Seine Lieblingsmotive waren impressionistische Landschaftsaufnahmen, die Bilder vom Meer sind spektakulär. Die bewegte See oder ein fahrendes Schiff auf eine Fotografie zu bannen, grenzte damals an ein technisches Wunder. Dreesen fotografierte in den Hafen einfahrende Segelschiffe, Fischerboote in der Brandung, sogar Wasserfälle. Es ist fast unvorstellbar, dass jemand mit so wenigen technischen Möglichkeiten so herausragend gute Bilder machen kann.

Die Bilder kamen gut an bei einem bürgerlichen, städtischen Publikum, das sich in diese ursprünglichen Küstenlandschaften verliebte und sich immer öfter ein Porträt im Fotoatelier gönnte. Dreesen wurde ein wohlhabender Mann, der sich neben dem repräsentativen Wohnhaus in der Großen Straße ein Sommerhaus in Egensund leisten konnte. Der Fotograf verbrachte viel Zeit in dem kleinen Ort auf der dänischen Seite der Flensburger Förde, der im Sommer eine  regelrechte Künstlerkolonie beherbergte. Dort lernte er von den Künstlern, besonders malerische Bilder herzustellen, während er ihnen fotografische Vorlagen für das Malen im winterlichen Atelier zur Verfügung stellte.

Kaiserlicher Hoffotograf

1887 schien Wilhelm Dreesen auf dem Gipfel seines Erfolgs angekommen zu sein. Bei einer Kunstausstellung in Florenz erhielt er den Ersten Preis. Dass ausgerechnet in Florenz, der Welthauptstadt der Kunst, ein Fotograf eine solche Auszeichnung erhielt, war natürlich eine echte Sensation. Kronprinz Friedrich Wilhelm, der Sohn Wilhelms I. und spätere Kaiser Friedrich III., empfahl, ihn zum kaiserlichen Hoffotografen zu ernennen. Im selben Jahr verstarb Dreesens Frau Wilhelmine nach 25 Ehejahren bei der Geburt ihres siebten Kindes. Dreesens Leben stand Kopf.

Einer seiner engsten Freunde, der Reeder Albert Ballinn, schlug ihm vor, sich beruflich noch einmal ganz neu aufzustellen. Als Direktor der Reederei HAPAG schlug er ihm einen Vertrag vor, der dem 47-jährige Witwer ungahnzte Perspektiven eröffnete: Dreesen erhielt die Erlaubnis, kostenfrei auf allen Schiffen der HAPAG reisen zu dürfen. Einzige Bedingung: Die auf diesen Reisen entstandenen Fotos musste er der HAPAG unentgeltlich zur Verfügung stellen.

Auf Luxusdampfern um die Welt

Ddrei Fotos an einer Wand

Für Dreesen begann ein aufregendes Leben, das ihn um die ganze Welt führte. Auf luxuriösen Kreuzfahrtschiffen reiste der Waisenjunge, aus dem man Kanonenfutter hatte machen wollen, nach Amerika, Ägypten, Kuba, in die Türkei und immer wieder nach Norwegen, dem Sehnsuchtsland des Kaiserreichs. Seine stimmungsvollen Fotos landeten in werbeprospekten und Schulbüchern, auf Postkarten und in opulenten Bildermappen, die den Passagieren der Ersten Klasse zum geschenk gemacht wurden. Als Influencer der Gründerzeit beförderte Dreesen Reiselust und Fernweh und zeigte den ganzen Zauber fremder Länder und Menschen. Die Bilder zeigen phänomenale Landschaftsaufnahmen einer vor über hundert Jahren noch weitgehend unberührten Natur und immer wieder Schiffe, Schiffe, Schiffe – zum Beispiel die FRAM, das Expeditionsschiff von Fridtjof Nansen. Aber sie zeigen auch viel koloniale Selbstverständlichkeit, wenn sich Dreesen in blütenweißem Tropenanzug inklusive Tropenhelm mit einer jungen, barbusigen Afrikanerin ablichtet, der er gönnerhaft seinen Arm um die Schultern legt. Fernweh und Fortschrittsglaube, Wohlstand und die Gewissheit, Herr über die ganze Welt zu sein, spiegeln sich in diesen Bildern.

Bis zum Ersten Weltkrieg bereist und fotografiert Dreesen die Welt. Mit über 70 Jahren ist er sogar noch als Kriegsfotograf im Einsatz, aber dann verspekuliert er sich mit Kriegsanleihen und verliert einen großen Teil seines Vermögens. Er zieht aus dem großen Haus in der Stadtmitte in eine kleine Mietwohnung, wo er 1926 stirbt – mittlerweile fast völlig in Vergessenheit geraten, auch wenn seine Fotos noch lange Eingang in Schulbücher finden.

Im Rahmen der Vorbereitungen zur Ausstellung tauchten noch weitere Kisten voller Negative auf, die Dreesens Nachfahren dem Museum zur Verfügung gestellt haben. Mit dem neuen Material ergeben sich auch neue Spuren zu Dreesens Leben und Werk. Die Reise geht weiter.

 

Info: Vielen Dank an Michael Fuhr, den Leiter des Museumsbergs Flensburg, für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Bilder. Das Copyright für die Fotografiens Dreesens liegt beim Museumsberg Flensburg.

 

4 Antworten

    1. Sorry – das tut mir leid, ich habe mir Egernsund angelesen, in einer Rezension im Nordschleswiger heißt es, das Haus sei in Sandager gewesen. Ich hoffe, mein Text über Ihren Urgroßvater und seine großartigen Fotografien hat Ihnen trotzdem gefallen.

  1. Hallo Frau Bachmann,

    wenn Sie all die erwähnten Fotos gesehen haben, dann können Sie mir vielleicht sagen, ob ein Foto, welches mir gerade vererbt wurde, von Dreesen ist.
    Kann ich Ihnen dieses Bild mal zukommen lassen?
    Und wenn Sie da nicht weiter wissen, kennen Sie vielleicht jemanden, der diese Bilder alle gesichtet hat?

    Das erste Foto in ihrem Blog ist wirklich…erstaunlich…schön.
    Natürlich gab es für die Herren schon damals ganz andere Bilder, also war es in Sachen Freizügigkeit nicht die Spitze, aber dieses ist besonders, weil es so schön komponiert ist.
    Ich hätte diese Frau gern mal kennengelernt…..wie ist das Bild zustande gekommen ?
    Zeitlich gesehen, hätte das meine Ururgroßmutter sein können.

    wie auch immer…kann ich Ihnen mein Foto mal senden ? … oder wem sonst ?

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